Rezension

Das fehlende Detail

Das fremde Haus - Sophie Hannah

Das fremde Haus
von Sophie Hannah

Bewertet mit 4 Sternen

Bentley Grove 11, Cambridge, steht zum Verkauf. Ein Haus von vielen in England, nichts Spektakuläres. Und dennoch bereitet es Connie Bowskill seit nunmehr sechs Monaten vehement schlaflose Nächte. Aktuell posaunt ein Schild seine Vakanz heraus. Grund genug für Connie, heimlich des Nachts sein Inneres zu erkunden – dank Internet nur wenige Mausklicks entfernt. Was sie allerdings bei ihrem virtuellen Rundgang durch die Räumlichkeiten auf der Roundthehouses-Website zu sehen bekommt, lässt ihr die Haare zu Berge stehen und bannt ihren Blick auf den Bildschirm. Im Wohnzimmer des Hauses liegt eine junge Frau, das Gesicht dem Boden zugekehrt, in einer riesigen Blutlache. Klein, zierlich, mit dunklem, glattem Haar, genau wie die Betrachterin. Der Schrecken ist groß! Wenige Minuten später, nachdem Connie überstürzt ihren Mann Kit aus dem Schlaf gerissen und an den Laptop gedrängt hat, ist die Leiche jedoch verschwunden. Nichts deutet auf dem Immobilienportal auf den ominösen Mord hin, keine Tote, kein Blut – es ist absolut kein Anhaltspunkt für die grausame Tat ersichtlich. Für die Ehe zwischen Catriona und Christain Bowskill, Connie und Kit, ist dieser Zwischenfall jedoch gleichbedeutend mit einer weiteren tiefen Bruchstelle im gegenseitigen Vertrauen. Einst waren die jungen Leute ein glückliches Paar, kauften 2004 zusammen das Melrose Cottage in Little Holling, Silsford, und gründeten die gemeinsame Firma Nulli Secundus Ltd., eine erfolgreiche Daten-Management-Beratung. Im Januar 2010 machte Connie allerdings eine Entdeckung, die Zweifel an der Integrität ihres Ehemannes aufkommen ließ. Im Navigationsgerät seines Autos stößt sie bei der Einstellung des Heimatortes auf den Eintrag Bentley Grove 11. Connie glaubt an ein geheimes Doppelleben von Kit, fährt regelmäßig freitags nach Cambridge, um ihn auf frischer Tat, etwa beim Verlassen des Anwesens oder an der Seite einer anderen Frau, zu ertappen. Selbst ihre zweiwöchigen Sitzungen mit der Homöopathin und psychologischen Beraterin Alice Bean bringen sie nicht davon ab, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Kit wähnt sich jedoch keiner Schuld bewusst, leugnet den Navi-Eintrag und geht von einer psychischen Überforderung Connies aus, die sich schon in der Vergangenheit als äußerst anfällig für psychosomatische Beschwerden zeigte. Obwohl Kit ihre Beobachtung nicht bestätigt, beschließt Connie, Simon Waterhouse über die Tote im Bentley Grove zu informieren. Von Alice weiß sie, dass er anders als andere Polizisten, auch für das Unglaubliche ein offenes Ohr hat, insofern es der Wahrheit entspricht. Leider befindet er sich zu diesem Zeitpunkt auf Hochzeitsreise nahe Marbella und Connie muss mit Sam Kombothekra Vorlieb nehmen. Er nimmt ihre Aussage auf, verblüffend viele Einzelheiten, doch eine Kleinigkeit fehlt …

„Das fremde Haus“ ist ein Psychothriller der britischen Autorin Sophie Hannah, an dem sich wohl die Geister scheiden. Mit einer innovativen Grundidee und der doch recht ausführlichen Umsetzung werden die Fakten nicht kurzerhand auf den Punkt gebracht, wie es für einen Großteil der Thriller üblich ist. Es fließt kaum Blut, die Seiten füllen sich anfänglich mit allerhand Kleinigkeiten und man muss schon einen Faible für kompliziertere, teils regelrecht abgehobene Denkweisen haben, um die Lektüre vollends genießen zu können. Nach einem ebenso dramatischen wie verwirrenden Intro, das ein grausames Ereignis für Samstag, den 24. Juli 2010 ankündigt, macht die Autorin einen Sprung exakt eine Woche zurück in der Zeit zum Samstag, den 17. Juli 2010. Das Pferd wird also von hinten aufgezäumt und erst Schritt für Schritt setzt sich ein perfides Puzzle um die wahren Begebenheiten rund um Connie und Kit Bowskill in insgesamt siebenundzwanzig Kapiteln, abwechselnd in erster oder dritter Person Singular verfasst, zusammen. Eingangs nimmt sich Sophie Hannah sehr viel Zeit, Charaktere und Schauplätze darzustellen. Nicht jedes Detail ist wirklich zum Gelingen der Story vonnöten, hin und wieder findet sich aber sehr wohl das ein oder andere Indiz, das den findigen Ermittler aufhorchen lässt. Hier und da eingeflochtene Hinweise und Andeutungen, sowie scheinbar zusammenhanglos eingefügte Asservaten-Stücke lassen die Leserschaft lange im Unklaren, worauf die Geschichte letztendlich hinauslaufen wird. Sind die Lebensumstände der Figuren erst einmal näher erläutert, wird das Tempo deutlich angezogen und die Seiten fliegen nur so dahin. Unterschiedliche Personen entwickeln vielfältige Theorien zur Erklärung der Hintergründe des Geschehens. Mitten drin der Leser, der eigenen Spekulationen nachhängt. Sind es Zufälle oder Wahnvorstellungen, denen die Hauptprotagonistin Connie Bowskill erliegt? Selbstzweifel und Misstrauen prägen ihr Denken und Handeln. Kit hingegen wirkt allseits selbstbewusst und Herr seiner Sinne. Er zeigt sich stets akkurat, ziel- und erfolgsorientiert, hat einen Hang zum Perfektionismus und einen surrealen Sinn für Humor. Insgesamt bleibt er im Gegensatz zu Connie dennoch bis zum Ende sehr undurchsichtig und blass. Polizeilich fallen vor allem Simon Waterhouse und Sam Kombothekra auf. Beide haben Stärken, Schwächen und selbstredend eigene Sorgen, tragen dennoch fortlaufend zur Aufklärung der Ereignisse bei. Auf den ersten Blick scheinen zahlreiche Techtelmechtel, Familientraditionen, hitzige Dialoge und Tiraden der Sorte was wäre wenn vom eigentlichen Thema abzulenken, allerdings bringen sie hin und wieder auch neue Denkansätze mit sich, gleiten also nicht völlig am Thema vorbei. Dem Leser wird einiges an Potenzial geboten, sich entweder mit der vermeintlich unzulänglichen, missverstandenen und immer etwas abseits stehenden Connie zu verbünden oder aber Stress und Erschöpfung als Schauspiel anzusehen. Es werden im Verlauf der Handlung viele Fragen aufgeworfen und Anschuldigungen getätigt. Dank häufiger Perspektivenwechsel wird es zu keiner Zeit langweilig, den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Immer wieder überrascht die Autorin mit pfiffigen Wendungen und einigen überraschenden Momenten. Zum Abschluss des Romans folgt ein großer Aha-Effekt und das Rätsel wird gelöst.

Optisch ist „Das fremde Haus“ ein wahres Highlight. Das bei Bastei Lübbe in deutscher Erstausgabe verlegte Taschenbuch ist von einem transparenten Schutzumschlag umgeben, der die Grundrisse eines Hauses zeigt, in die sich Autorenname und Titel auf der Vorderseite, sowie die Inhaltsbeschreibung auf der Rückseite perfekt einfügen. Das Cover ist farblich schlicht weiß gehalten. Umso deutlicher fallen vier blutige Fingerabdrücke auf dem Umschlag auf! Im Inneren des Buches finden sich vorweg noch einmal Grundrisse von Ober- und Erdgeschoss zur Orientierung und zwischen den jeweiligen Kapiteln einzelne Beweisstücke der unglaublichen Geschichte, jeweils grau hinterlegt. Papier, Satz und Druck sind einwandfrei.

Fazit:

„Das fremde Haus“ von Sophie Hannah hält einige unterhaltsame Überraschungen bereit. Der etwas andere Psychothriller gleicht einem Puzzle aus verzwickter Familiengeschichte, enervierendem Katz- und Mausspiel und abstrakter Psychologie. Anfang etwas behäbig erzählt, nimmt die Geschichte schließlich enorm an Fahrt auf und der Leser findet sich im Sog wilder Spekulationen wieder. Zum Abschluss des Romans eröffnet sich das geballte Spektrum absurden Denkens – fast schon genial.