Rezension

Das Gewicht des Inkognito

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 4 Sternen

Karl hat völlig den Boden unter den Füßen verloren. Er ist auf dem Weg in seine Heimatstadt um seinen Vater zu beerdigen, der sich das Leben genommen hat, weil ein faustgroßer Tumor im Kopf seiner Mutter entdeckt wurde.

Seine Eltern, Ada und August Stiegenhauer, sind das angesagte Künstlerpaar der Zeit. Sie wollten immer nur sein Bestes – doch genau genommen wollten sie nur sich als Paar - und haben ihn schon früh sich selbst, anderen und der Welt überlassen. Karl wurde früh unter anderem Namen ins Internat geschickt. Dort entdeckte man seine künstlerische Begabung und förderte sie. Nach dem Abschluss besuchte er eine Kunstakademie und wurde ebenfalls erfolgreich. Zu seinen Eltern hatte er keinen Kontakt mehr. Zwischen und neben ihnen war kein Platz für andere Menschen, auch nicht für ihn. Sein Leben war nahezu das eines Waisenkindes. Ihm fehlte eine Identifikation. In seiner Kunst zeigte er seine eigene Isolation.

Sechs Jahre lang hat er die Entscheidung vor sich hingeschoben, was aus dem Erbe seiner Eltern und dem Haus werden soll. Obwohl es seine künstlerisch erfolgreichsten Jahre waren, fand er nicht die Erfüllung seiner Sehnsüchte. Die Trennung von seiner Freundin hat den Stein ins Rollen gebracht. Er fuhr zurück nach Leinsee und befreite sich vom Gewicht seines Erbes. Nun endlich fand er zu seinem eigenen Stil – und zu einer anderen Frau. Mit ihr beginnt für ihn eine neue Zeit. Und für den Leser beginnt eine neue Geschichte.

Von dem Schreibstil war ich völlig eingenommen. Er hat einen erkennbaren Rhythmus und überrascht mit hinreißenden Wörtern und schöpferischen Beschreibungen. Anne Reinecke erzeugt mit einem außerordentlichen Gespür für Emotionen Bilder tiefer Gefühlslagen und lässt die Umgebung plastisch auferstehen. Ihre Protagonisten zeichnet sie als karikierte Charaktere, die in ihren Lebenswegen festgefahren sind. Als Antagonist präsentiert sie ein Kind in seiner Entwicklung und späteren Emanzipation.

Man kommt nicht umhin, sich mit widernatürlichen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Eingebunden in einem Rahmen zauberhafter Darstellungen kann man diese Bilder aufkommen  lassen. In meinen Augen ist dieses Buch ein couragiertes Debüt. Doch es gab für mich einen Bruch. Die das Ende einläutende Handlung Karls hat die Themen dieses Romans nicht aufgelöst, vielmehr sehe ich das als eine neue Geschichte.