Rezension

Das große Finale der Neapolitanischen Saga.

Die Geschichte des verlorenen Kindes - Elena Ferrante

Die Geschichte des verlorenen Kindes
von Elena Ferrante

Bewertet mit 5 Sternen

Großes Finale für Lila und Elena, Elena Ferrantes viertes Buch über eine jahrzehntelange Freundschaft. So viel sich der Leser ausmalen mag, was Ferrante erzählt, ist nichts womit man rechnet. Umso kälter erwischt es einen. Tatsächlich ist dieser letzte Band der düsterste, der spannendste und der traurigste, denn da wird die Frage, was aus Lila geworden ist, ein letztes Mal aufgeworfen. Genau mit diesem Rätsel hat die Saga einst begonnen. Elena aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, lebt in Turin, als sie einen Anruf von Lilas Sohn Rino bekommt: Er wisse nicht, wo seine Mutter stecke, all ihre Sachen seien verschwunden. Auch Elena weiß nichts, aber sie erinnert sich an die jahrzehntelange Freundschaft zu Lila und die widersprüchlichen Gefühle, die sie in der Zeit hatte. Elenas und Lilas Kindheit in einem heruntergekommenen konfliktgeprägten Stadtteil Neaples, Lilas frühe Ehe, Elenas schulischer Erfolg, die Liebe beider zum rätselhaften Nino Sarratore, die harte Arbeit Lilas in Neapel, Elenas Intellektuellenleben in Pisa, die Schwangerschaften sowie das ständige Auseinanderdriften und Zusammenfinden der Freundinnen. Der brutale Alltag im Neapel der 50er Jahre und seine tradierten Rollenbilder begleiten die Geschichte dabei so wie die 60er- und 70er- Jahre in Italien mit ihren permanenten Auseinandersetzungen zwischen Faschisten und Kommunisten. Ferrantes Gesellschaftspanorama sowie ihre raffinierte Schilderung einer höchst komplizierten Frauenfreundschaft, bei der man nicht weiß, wen man nun eigentlich mögen soll, die schüchterne Elena, die nie so recht sagt, was sie wirklich denkt, ständig Selbstzweifel hegt und sich von der Anerkennung anderer abhängig fühlt. Oder die verschlagene Lila, bei der stets unklar ist, was sie im Schilde führt. Auch in diesem letzten Band wird die Beantwortung dieser Frage nicht einfacher. Er beginnt mit Elenas lang ersehntem Traum, endlich mit Nino zusammen zu sein - der einst auch Lilas Geliebter war. Im dritten Band lässt sie ihren Mann Pietro und die beiden Töchter Dede und Elsa sitzen, um mit Nino durchzubrennen. Im Laufe des letzten Teils nimmt nicht nur die Beziehung zu Nino eine unerwartete Wendung - auch das Auf und Ab zwischen Lila und Elena sorgt immer wieder für Überraschungen. "Sie wollte, dass wir uns versöhnen, wollte sich wieder in meinem Leben einnisten", sagt Elena zunächst über Lila. Dann finden die Freundinnen zur gegenseitigen Zuneigung zurück. Die Leben der beiden Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein - das ändert sich auch nicht, als Elena wieder in den "Rione" - das Stadtviertel, in dem die Mädchen aufgewachsen sind, zurückkehrt. Sie konzentriert sich auf ihre Karriere als Schriftstellerin, die in der Welt herumkommt. Lila macht sich selbstständig und bekommt davon in der "Tiefe des Rione" gar nichts mit. Je weiter sich Lilas und Elenas Kindheit von der Gegenwart entfernt, desto extremer, ambivalenter und widersprüchlicher wird ihre Beziehung. Die Fans von Elena Ferrante dürften sich beim Lesen dieses letzten Bandes kaum vom Sofa wegbewegen, denn die "Geschichte des verlorenen Kindes" ist bemerkenswert. Ein Buch bunt wie der Regenbogen und alles drin, was man braucht: Liebe, Leidenschaft, Tragödien! Typisch italienisches Temperament. Es ist eine ruhige Erzählung ohne große Dramatik, auf die man sich einlassen muss und die dann umso mehr fasziniert. Ein Sittengemälde und grandioses Zeitpanorama über die rettende und zerstörerische, die weltverändernde Kraft einer Freundschaft, die ein ganzes langes Leben währt. Sprachlich genial umgesetzt.