Rezension

Das Gründliche, Wahre, Endgültige Vergessen.

Der Sommer der Schmetterlinge - Adriana Lisboa

Der Sommer der Schmetterlinge
von Adriana Lisboa

Bewertet mit 5 Sternen

~~Klappentext
Nach Jahren treffen sich die beiden ungleichen Schwestern Maria Inês und Clarice wieder, um das Unerklärliche zu klären, das ihr Leben geprägt hat.
Die beiden Mädchen wachsen in einem wohlhabenden Elternhaus auf einer Fazenda im Landesinneren des Bundesstaates Rio de Janeiro auf. Ihre Kindheit verläuft scheinbar harmonisch und behütet, tatsächlich ist ihre Welt bestimmt von den „verbotenen Dingen“, die man nicht aussprechen darf. Und so teilen Clarice und Maria Inês dunkle Geheimnisse, die jeden ihrer Schritte begleiten. Mit den Jahren verlieren sie sich aus den Augen, die eine lebt als Ärztin in Rio, die andere auf der heimatlichen Fazenda. Erst nach dem Tod der Eltern treffen die Schwestern in einer schicksalshaften Nacht wieder aufeinander und bringen all die unausgesprochenen Wahrheiten endlich ans Licht.

 

„An dem Morgen, an dem Maria Inês im Landesinneren des Bundesstaates Rio de Janeiro geboren wurde, fiel ein feiner, trüber Regen. Vielleicht mochte sie es deshalb seit jeher, wenn es leise regnete, als wäre dieses Weinen der Natur ihrem Gedächtnis eingeschrieben, wie die dunkle Farbe ihrer Augen und Haare ihrem genetischen Code. Maria Inês wurde ins Leben gezerrt, während Gott ihrer Eltern sanfte Tränen über das Land vergoss, und irgendwo wurde noch etwas anderes geboren, eine Knospe, die stumm austrieb. Mit dem Ernst der höheren Dinge.“ (Seite 42)

Clarice und Maria Inês sind zwei Schwertern, die so unterschiedlich sind, wie Geschwistern sein können. Dennoch verbindet sie eine sehr innige schwesterliche Liebe Sie wachsen behütet auf der Fazenda der Familie auf. Aber innerhalb dieser Familie, die der damaligen Zeit entsprechend ein Clan ist, gibt es viele Geheimnisse. Vieles darf nicht ausgesprochen werden, alles wird verheimlicht oder unter den Teppich gekehrt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass erst Clarice, die Ältere zu einer Tante nach Rio geschickt wird, und ein paar Jahre später auch Maria Inês. In Rio erfahren die Mädchen eine Ausbildung und werden aufs Leben vorbereitet. Clarice wie auch Maria Inês heiraten. Die beiden Schwestern haben kaum noch Kontakt. Jede geht ihren Weg. Und dennoch verbindet sie ein Geheimnis. An einem Sommer, Jahre nach dem Tod der Eltern treffen sie sich wieder und all die unausgesprochenen Dinge werden endlich ausgesprochen.

„Der Himmel ist so hoch, dass man bei seinem Anblick eine genaue Vorstellung vom Unendlichen bekommt. Doch das Unendliche kann innerhalb einer Sekunde sterben.
Das Unendliche kann auch innerhalb einer Sekunde sterben, die gefriert und für immer fortdauert. Das ist das Gegenteil des Unendlichen, die absolute Endlichkeit. Ein Moment, der mit seiner quälenden, tragischen Wahrheit all die einzigartigen Momente auszulöschen vermag. Ein Moment, der die Kindheit am Hals packt, sie mit einem Würgegriff zu Boden wirft und ihr die Luft abdrückt, bis sie erstickt. Ein Moment, der die Wurzeln der Zypressen verdorren lässt und den mit gehackten Gänseblümchen bestreuten Sandkuchen zertritt.“ (Seite 68/ 69)

In immer wechselnden Abschnitten erfahre ich als Leserin, wie es den beiden Mädchen im Leben ergangen ist. Das wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Schnell spüre ich als Leserin, dass irgendetwas mit dieser Familie nicht stimmt. Diese Harmonie ist trügerisch. Erst sind es Kleinigkeiten, die mich misstrauisch stimmen und je mehr ich in diese Familie und ihre Geschichte eintauchen, desto mehr zieht sich mein Herz zusammen. Die Autorin baut mit jeder Seite mehr eine Spannung auf, die kaum auszuhalten ist. Denn ich als Leserin habe jetzt eine Vermutung, die ich nicht bestätigt haben möchte.

„Die Dinge wirken weniger verheerend, wenn man sie aus der Nähe gesehen hat. Sie verlieren ihren Heiligenschein, werden gewöhnlich, alltäglich, und es verringert sich auch die Distanz zwischen ihnen selbst und der Vorstellung, die man sich von ihnen macht.“ (Seite 266)

Für mich war das nicht der Fall, denn dieses Buch hat es in sich und mich nach dem Lesen die halbe Nacht wach gehalten.  Die Sprache ist eine sehr poetische, die Stimmung von der ersten Seite an bedrückend. Zum Ende hin hat sich eine enorme Spannung aufgebaut, die dann mit einem Ende daher kommt, wie ich es nie im Leben erwartet hätte und mich vollkommen aus der Bahn geworfen hat. Ich habe geweint, weil das was ich da gelesen habe, mein Herz so sehr berührt hat. Niemals hätte ich hinter diesem Titel ein solches Drama erwartet.

„Alles mündet in diesem Ort und in diesem Moment. All die gelebten Jahre. Alles, was in diesen Jahren gefehlt hatte, und alles, was in ihnen zu viel gewesen war. Die Gefahren und die Versprechen. Die Liebe, die unbemerkt gereift war, und das Grundmuster, das unverändert überdauert hatte.“ (Seite 267)