Rezension

Das Hauptwerk des Autors?

Kathedrale - Raymond Carver

Kathedrale
von Raymond Carver

Bewertet mit 5 Sternen

Raymond Carver betrachtet nach Aussage des Verlags Kathedrale als sein Hauptwerk. Der Autor weist mit dieser Aussage möglicherweise darauf hin, dass er sich mit Veröffentlichung dieser Erzählungen (1983) fünf Jahre vor seinem Tod dem Einfluss seines Lektors Gordon Lish entzogen hat.

Deutlich wird der gewaltige Kontrast zwischen Carvers Original und den von Lish  lektorierten Texten allein im Umfang der Erzählung "Eine kleine gute Sache", die in dieser Ausgabe 34 Seiten umfasst,  in der von Lish gekürzten Version "Das Bad" in "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden", nur  9 Seiten. Es ist die Geschichte der Tortenbestellung für einen Kindergeburtstag. Während die Eltern von der Sorge über ihren Sohn absorbiert sind, der im Koma liegt und die Torte völlig vergessen haben, gehen für sie unverständliche Anrufe des Bäckers ein, der nicht verständlich machen kann, warum er anruft.  Auf das Naheliegende kommen die Eltern nicht und vermuten hinter den Anrufen einen Psychopathen. Carver treibt hier die Trostlosigkeit der Situation durch das Missverständnis zwischen Kunde und Bäcker auf die Spitze.

Weitere Geschichten haben Erlebnisse in Familien mit Kindern zum Thema. In "Federn" wird ein kinderloses Ehepaar eingeladen, um das Baby eines Kollegen zu bewundern, ein hässliches Kind, wie Carver betont. In "Das Abteil" plant Herr Myers seinen Sohn in Straßburg zu besuchen, zu dem seit dessen Kindheit der Kontakt abgerissen ist. Der Besuch steht unter einem ungünstigen Stern. Das Geschenk für seinen Sohn wird Myers aus seiner Manteltasche gestohlen; zudem wird er sich seiner ambivalenten Beziehung zu seinem Kind klar.

"Der Zug" empfand ich als emotionalste Geschichte in diesem Band. Carlyle wird durch die Trennung von seiner Frau zum allein erziehenden Vater. Er stellt ein Kindermädchen ein und muss sich mit der Abhängigkeit davon abfinden, dass die Kinderbetreuerin auch zuverlässig zur Arbeit kommt. Sein Bedürfnis  nach weiblicher Fürsorge setzt Carlyle dem Kümmertrieb  einer Kollegin aus, der an der Grenze zum Übergriff laviert. Eine ältere, warmherzige (und absolut  zuverlässige) Haushälterin erweist sich als Segen für Vater und Kinder. Sie entscheidet sich aus familiären Gründen die Stelle wieder aufzugeben  und setzt Carlyle damit erneut emotionaler Kälte und Verlassenheit aus.  Loslassen hat Carlyle noch nicht gelernt. In "Konservierung" begegnen wir den für Carver typischen Figuren aus kleinen Verhältnissen. Sandys Mann ist gekündigt worden. Er fand bisher keine neue Arbeit und verbringt seine Tage offenbar nur noch auf dem Sofa. Wie kann jemand mit erst 31 Jahren völlig aus der Bahn geworfen werden, nur weil der Kühlschrank seinen Dienst eingestellt hat? Hier scheint nicht Geld das Problem zu sein, sondern die Entschlusslsoigkeit des Ehepaars Mann.  "Vorsichtig" konfrontiert uns mit einem Hypochonder, der bereit ist an seinem verstopften Ohr zu sterben. Der Ohrpropf als  persönlicher Feind kommt nicht zum Zug; denn Ehefrau Inez hilft ihrem Mann selbstlos aus diesem Drama des Alltags. "Das Zaumzeug" steht als Erinnerungsstück für den wirtschaftlichen Niedergang einer Familie, die ihre Würde zu bewahren sucht, obwohl ihre Farm zwangsversteigert wurde und es  für Ex-Farmer keine Jobs gibt. Wie eine "Kathedrale" aussieht möchte ein blinder Besucher in der gleichnahmigen Erzählung erfahren und treibt damit den Konflikt zwischen seiner Gastgeberin (die sich der Situation entzieht, indem sie auf dem Sofa einschläft) und deren Mann auf die Spitze.

"Kathedrale" hat mich kaum weniger beeindruckt als Carvers ältere Bände mit Kurzgeschichten.