Rezension

Das Herz der Finsternis im Cyberspace

Otherland. Das Hörspiel - Tad Williams

Otherland. Das Hörspiel
von Tad Williams

Bewertet mit 5 Sternen

Ich bin kein Fan von Hörbüchern. Wirklich nicht. Es gibt allerdings oft Ausnahmen der Regel, in meinem Fall das Hörspiel zu Tad William's „Otherland“.

2004 wurde ich während des Besuchs der Buchmesse in Frankfurt auf die rekordverdächtige Produktion des Hessischen Rundfunks aufmerksam: Mit rund 250 hochkarätigen Sprechern wurde ein beachtlicher Aufwand betrieben, jede (Neben)rolle hat tatsächlich eine eigens dafür ausgewählte Stimme. Dazu kommen noch Musik und Soundeffekte auf höchstem Niveau. Nachdem ich mich über den Inhalt der Story erkundigte, zudem auch noch herausfand, dass u.a. auch Meret Becker als Sprecherin mitwirkte, war meine Neugier geweckt und bestellte mir den ersten Teil des Hörspiels „Die Stadt der goldenen Schatten“. Die Box kam auch kurz darauf bei mir zu Hause an und ich beschloss nach einem stressigen Arbeitstag bei einem Hörspiel zu relaxen. CD 1 wanderte in den Player, ich lehnte mich entspannt zurück, nur um Sekunden darauf erschreckt wieder hochzufahren, denn mein Wohnzimmer hatte sich plötzlich akustisch in den Ersten Weltkrieg verwandelt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Sollte es nicht um eine Geschichte in virtuellen Welten und nicht um „Im Westen nichts Neues“ gehen? Nach einiger Zeit versuchte ich es noch einmal, hielt die ersten Minuten Grabenkampf durch und wurde nicht enttäuscht: Die Geschichte verästelt sich Rasch in verschiedene Ebenen, um dann insgesamt rasch an Fahrt zu gewinnen. Tad Williams hat mit der Quadrologie „Otherland“ geschickt zahlreiche Handlungsstränge miteinander verwoben, die am Anfang für den Hörer vielleicht noch etwas verwirrend sein mögen, nach einer Weile aber übersichtlich sein sollten. Das Hörspiel ist selbstverständlich eine überarbeitete Fassung des 4000 Seiten umfassenden Gesamtwerks und gibt dieses sehr dreidimensional wieder. Es wurde gekürzt- ja. Der Spannung und Tiefe schadet dies aber in keinster Weise.  Stimmen, Geräusche und Musik harmonisieren treffend und ziehen den Hörer in den Bann, schließt man die Augen befindet man sich sofort in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Unterbrochen werden manche Szenenwechsel von Netfeeds: Kurze Nachrichten, was denn gerade so in der Welt passiert, mal direkt oder auch indirekt mit der eigentlichen Handlung verbunden. Eine tolle Idee!

Empfehlen würde ich das Hörspiel für Liebhaber von komplexen (Cyber)thrillern und allen, die Matrix, Ghost In The Shell oder Neuromancer lieben.

Abraten würde ich dagegen Hörern, die eine ruhige, strukturierte Lesung bevorzugen: Otherland ist ein Dauerfeuer wirklich unterschiedlichster Handlungen. Hört man nicht aufmerksam zu, verliert man den Faden.

Ihr habt übrigens Glück, denn das Hörspiel ist nun in einer Gesamtbox erhältlich. Ich musste damals nach einem Cliffhanger Monate auf die Fortsetzung warten. Auf Teil 2 „Fluss aus blauem Feuer“ war ich dann so gespannt, dass ich mir tatsächlich einen kompletten Tag frei nahm und alle 6 CDs am Stück durchhörte. Das sagt doch alles über das Niveau der Spannung, oder?