Rezension

Das Ich und die Hauptfigur

Ich an meiner Seite - Birgit Birnbacher

Ich an meiner Seite
von Birgit Birnbacher

Bewertet mit 4.5 Sternen

Man merkt, dass Birgit Birnbacher als Soziologin weiß, wovon sie spricht, wenn sie über diesen jungen Mann schreibt, der eigentlich kein schlechter Kerl und doch auf die schiefe Bahn geraten ist. Er ist kein Mörder, kein Vergewaltiger, von ihm geht keine Bedrohung aus, und daher ist man als Leser:in bereit, ihm erstmal einen moralischen Kredit einzuräumen.⠀

Irgendwie muss Arthur nach 26 Monaten Gefängnisaufenthalt zurückkehren ins Leben, daher nimmt er die Hilfe eines Resozialisierungsheims in Anspruch, trottet brav zu seinen Therapiestunden – und die sind unkonventionell, um nicht zu sagen sonderbar. Eine “Hauptfigur” soll Arthur sich ausdenken: eine idealisierte Version seiner selbst, die sich überstülpen lässt wie eine Maske und in deren eingeübte Verhaltensmuster er sich in schwierigen Situationen flüchten kann.⠀

“Also träumen Sie erst mal einen Entwurf von sich. Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können. Verstehen Sie den Unterschied?”⠀

Das soll Arthur Struktur geben, aber er ist intelligent genug, um zu wissen: schon die grundlegendsten Dinge, wie das Finden eines Jobs oder einer Wohnung werden in Zukunft aufgrund seiner Vorstrafen zur Sisyphosarbeit werden, Hauptfigur hin oder her. Man kann ihm eine gesunde Skepsis nicht verübeln, durch die er zum Schluss kommt:⠀

“Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier rausbringen wird, sondern einzig ich an meiner Seite.”⠀

Arthurs Hintergrundgeschichte klingt, als sei sie anfällig für Klischees:⠀
Der Vater ist früh verschwunden, schon davor war die Kindheit in der Arbeitersiedlung nicht allzu rosig für das stille Kind. Durch den neuen Lebensgefährten von Mutter Marianne wird “Georg sagt” zum neuen Diktat und die bisherige Struktur zum nur brüchig verbundenen Patchwork.⠀

Der ersehnte gesellschaftliche Aufstieg verschlägt die Stieffamilie nach Andalusien, wo Marianne ein luxuriöses Hospiz leitet, so dass der Hochglanz-Tod für Arthur und seinen Bruder Klaus zum Alltag wird. Irgendwann flüchtet auch Klaus aus der Familie, Arthur findet neue Freunde und verstrickt sich in ein pubertäres Liebesdreieck. Dann geschieht ein tragisches Unglück, das sein Leben fortan überschattet.⠀

Es wäre einfach, den Finger auf einen Punkt zu legen und zu sagen: Aha, hier liegen also die Ursachen für seinen späteren Abstieg! Nichts davon wird indes als Rechtfertigung oder schnöde 08/15-Erklärung für Arthurs Verhalten benutzt.⠀

Die Autorin beschönigt Arthurs Lage und auch seine Schuld daran nicht, zeichnet ihn aber weder als bemitleidenswertes Opfer noch als mustergültig reformierten Heimkehrer, der sich wie Phönix aus der Asche erhebt. Sie sieht davon ab, die Erzählung zum moralinsauren Trauerspiel oder zum Klamauk verkommen zu lassen, sondern erzählt ruhig, durchaus mit Humor aber immer glaubhaft.⠀

Der Schreibstil passt wunderbar zu dieser Mischung aus Sozialkritik, persönlicher (Anti-)Heldenreise und Unterhaltung. In letzter Zeit habe ich viele Romane mit lyrischer oder irgendwie außergewöhnlicher Sprache gelesen. Hier ist die Sprache an sich relativ nüchtern, schnörkellos und auf den Punkt, aber trotzdem überhaupt nicht langweilig oder emotional flach. Der Stil ist in seiner Klarheit eine willkommene Abwechslung – die Sprache nimmt sich zurück, dadurch kann man sich auf die Geschichte konzentrieren.⠀

Mit knackigen Dialogen springen einem die Charaktere auch ohne poetische Metaphern geradezu aus dem Text entgegen. Besonders die Nebencharaktere wie die alte Schauspielerin Grazetta oder der Therapeut Konstantin Vogl, genannt “Börd”, sind großartig. Sie katapultieren sich direkt ins Langzeitgedächtnis des Lesers, weil sie so glaubhaft sind und dennoch so originell, mit Ecken und Kanten. Daneben verblasst der stille, zurückhaltende Arthur manchmal fast ein bisschen.⠀

Schubladen sucht man hier vergebens. Frau Birnbacher entsagt der Klischees oder des Sozialkitsches. Da kann ein Therapeut auch mal ein desillusionierter Alkoholiker sein, der frauenfeindliche Sprüche raushaut und einem dennoch ans Herz wächst, und die Menschen, die Arthur eigentlich den Weg bahnen sollten, können straucheln oder sogar scheitern.⠀

Die Autorin schreibt stets mit großer Empathie. Humor existiert nie ohne den gelegentlichen Bruch, so dass die vielen Facetten der menschlichen Natur durch die Risse sichtbar werden.⠀

Die schillernde Grazetta schwindet vor Arthurs Augen immer mehr dahin und bleibt doch unbeirrt Grande Dame und loyale Freundin. Leichter Witz und ernste Themen wie Krankheit, Sucht, Alter oder Tod schließen sich gegenseitig niemals aus – so ist halt das Leben. Auch was Arthur im Gefängnis erlebt, ist schrecklich, und das wird weder für den Schockfaktor ausgeschlachtet noch heruntergespielt.⠀

Das Ende verzichtet auf erzwungen klare Lösungen, als Leser:in muss man sich wie Artur mit leiser Hoffnung zufrieden geben.⠀

“Er denkt: schön eigentlich. Immer wieder geschieht etwas, und der Mensch macht weiter.”⠀

Fazit⠀

Ich musste den Roman ein paar Tage sacken lassen – aus irgendeinem Grund fühlte ich mich nicht hundertprozentig begeistert, obwohl mir die einzelnen Elemente der Geschichte doch sehr gefielen. Vielleicht hätte ihm in manchen Passagen etwas mehr Struktur gutgetan, vielleicht verblasste Protagonist Arthur manchmal zu sehr neben den Charakteren Grazetta und Börd.⠀

Dennoch ist das Meckern auf hohem Niveau! Das Buch bietet viele lohnende Denkanstöße, eine interessante Sozialstudie, lebendige Charaktere und auch eine sehr unterhaltsame Geschichte mit feinem Humor. Daher kam ich zu dem Schluss, dass es die Longlist-Nominierung für den Deutschen Buchpreis in meinen Augen durchaus verdient hat.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-birgit-birnbacher-ich-an-meine...