Rezension

Das Innenleben einer hanseatischen Familie

Das Haus am Alsterufer - Micaela Jary

Das Haus am Alsterufer
von Micaela Jary

Auf einem Alsterdampfer erreicht die gerade 16 Jahre alte Klara Tießen ihr Ziel am Harvestehuder Weg Nr. 12, wo sie an der Tür des herrschaftlichen Anwesens der Familie Dornhain Einlass erbittet.

In der Villa lebt der verwitwete Reeder Victor Dornhain gemeinsam mit seinen drei Töchtern Lavinia, Helene und Ellinor sowie mit seiner Mutter Charlotte Dornhain. Klara wird sehr überraschend und entgegen den üblichen Gewohnheiten als drittes Hausmädchen angestellt und erlebt die Familie täglich hautnah. Sie ist eine gute Beobachterin und sieht so manches. Aber sie beteiligt sich nur sehr wenig bis gar nicht am Gerede der anderen Dienstboten. Es scheint sie Geheimnis zu umgeben.
Die Großmutter der Familie ist eine sehr konservative alte Dame, die großen Wert auf die gesellschaftlichen Konventionen legt, ihr Sohn Victor weilt oft aus beruflichen Gründen außer Haus, die Erziehung der drei Töchter ist daher zu einem bedeutenden Teil von der Großmutter geleistet worden und auch jetzt achtet sie auf den Alltag ihrer Enkelinnen.
Lavinia, die jüngste, ist ein wenig flatterhaft, manchmal sogar leichtsinnig und sieht ihre Zukunft als Ehefrau und Mutter in einem Haushalt, der am besten noch prachtvoller ist als der des Vaters.
Die mittlere Tochter Helene, Nele genannt, lebt zumindest zeitweilig in München, wo sie Kunst studiert, später geht sie in die Schweiz und lebt dort in einer Art Landkommune. Und Ellinor, die älteste Tochter, lebt im Haus im Hamburg, schlägt aber für Großmutter und Vater etwas „aus der Art“, sie ist unverheiratet, beschäftigt sie immer stärker mit politischen Themen und ist in ihren Gedanken den Frauenrechtlerinnen sehr verbunden.
Die Charaktere dieser Hauptfiguren, die natürlich mit vielerlei weiteren Personen in Beziehungen stehen, sind sehr gut gezeichnet und natürlich fehlen diesem Buch die wesentlichen Dinge eines Familienromans nicht als da wären: glückliche und unglückliche Liebe und auch eine Liebe, die keine ist, sondern nur dafür gehalten wird. Man hat Geheimnisse, voreinander und miteinander, und der Umgang der drei Töchter gefällt ihrer Großmutter oftmals nicht.
Aber nicht nur der Leser spürt, dass diese Jahre kurz vor und während des drei Jahre später beginnenden ersten Weltkriegs durch viele Wendepunkte und Umbrüche gezeichnet sind. Schicksalsschläge ereilen die Familie oder auch nur einzelne Familienmitglieder nicht zuletzt auch infolge finanzieller Probleme, die durch die Kriegsjahre immer schwieriger werden. Dies alles sorgt für einen süffigen Unterhaltungsroman, der aber das historische Wissen über die Zeit auf angenehme und gut lesbare Weise mit den Personen, ihrem Leben  und der vordergründigen Handlung verbindet.
Es kommt hinzu, dass auch die Hansestadt sehr gut dargestellt wird. Man kann Stadtteile, Plätze und Straßenzüge so nachvollziehen, als würde man selbst gerade dort unterwegs sein und für Ortsunkundige macht ein Stadtplan am Anfang des Buches die Umgebung derer von Dornhain gut sichtbar.
So wird dieses Buch zu einem echten Leseerlebnis für eine breite Leserschaft und ich kann es nur wärmstens empfehlen. Es eignet sich sowohl für einen ausgiebigen Lesetag auf der Couch, findet aber auch in der Strandtasche für den Urlaub den richtigen Platz.