Das Land der Gesichtslosen
Bewertet mit 5 Sternen
Nicht viel ist bekannt von Nordkorea. Was wir heute über eines der ärmsten und zugleich militarisiertesten Länder der Welt wissen, stammt einzig aus Berichten von Geflüchteten, Journalisten und Touristen oder der offiziellen (und unter staatlicher Kontrolle stehenden) Nachrichtenagentur Nordkoreas KCNA. Dem Schriftsteller Bandi (die genaue Identität ist nicht bekannt) ist es zu verdanken, dass wieder etwas mehr über ein Land an die Außenwelt gedrungen ist, das sich sonst vollkommen von dieser isoliert.
Nach der Teilung der koreanischen Halbinsel infolge des 2. Weltkrieges und des Korea-Krieges entwickelten sich die beiden unabhängigen Staaten, Republik Korea (Südkorea) und Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea), sehr unterschiedlich. Während sich Südkorea in kurzer Zeit von einem armen Agrarland zu einem modernen, wohlhabenden Industriestaat entwickelte, schien Nordkorea auf der Stelle zu treten. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kam der Handel Nordkoreas fast gänzlich zum Erliegen. Die ohnehin nur gering vorhandenen Anbauflächen (Nordkorea besteht zum größten Teil aus Bergen und felsigem Boden) reichten bald schon nicht mehr aus, um die Lebensmittelversorgung im Land aufrecht zu erhalten. Die Erzählungen Bandis geben Einblick in den täglichen Kampf der Menschen in jener Zeit des Mangels, dem viele hunderttausende bis Millionen Menschen zum Opfer fielen (Schätzungen, da keine offiziellen Quellen vorhanden).
Wir erleben den Alltag aus Sicht verschiedener Personengruppen. Etwa die Frau eines Parteiangehörigen, die wegen geschlossener Vorhänge mitsamt ihrer Familie aufs Land verbannt wird. Eine andere Geschichte erzählt von den weitreichenden Folgen einer eingegangenen Reispflanze für eine ganze Familie mitsamt den folgenden Generationen. Immer wieder steigen während des Lesens unterschiedliche Emotionen in einem auf: Unverständnis, Trauer, Wut. Tagtäglich sind diese Menschen der staatlichen Willkür ausgeliefert. Von Kindesbeinen an werden sie darauf gedrillt, ihr Leben für das Regime zu geben, zu gehorchen und das persönliche Wohl und die Familie hinten an zu stellen. Ungeachtet aller Ungerechtigkeit und Unterdrückung: Niemand beschwert sich, niemand weint. Denn beides würde als Kritik am oder mangelnder Loyalität zum Regime interpretiert und hart bestraft werden und dessen Schergen sind überall, sehen alles, hören alles. Die Rebellion gibt es nur im Stillen. Nach außen versucht jeder möglichst unsichtbar und unscheinbar zu sein, nicht aufzufallen oder aus der Menge herauszustechen. Jeder trägt eine gesichtslose Maske zur Schau. Denn jedes „Anderssein“, jede Abweichung von der Norm könnte zu Sanktionen, Verbannung, Internierung (Arbeitslager oder Gefängnis) oder sogar zur Exekution führen. So wird permanent Druck auf die Menschen ausgeübt und ihr Gehorsam erzwungen.
Rund 30 Jahre später hat sich nicht viel für das nordkoreanische Volk verändert. Zwar gibt es mittlerweile ein landeseigenes Mobilfunknetz (obgleich kaum jemand ein Mobiltelefon besitzt), Intranet (landesweites Internet ohne Zugang zu Internetseiten im Ausland) und sogar westliche Medien und Drogen haben unter der Hand Einzug in das Land erhalten. In der Hauptstadt Pjöngjang sind in den letzten Jahren viele moderne Bauwerke entstanden, sowie zahlreiche Restaurants und Boutiquen in denen Markenprodukte aus dem Westen angeboten werden. Das Land versucht auf dem Gebiet des Tourismus aufzuschließen. Seit einiger Zeit werden sogar geführte (Bus-)Touren durch die wirklich schöne Landschaft Nordkoreas angeboten. Doch der schillernden Fassade zum Trotz fehlt es dem Volk noch immer am Lebensnotwendigen, wie Strom, Wärme, Medizin oder Lebensmitteln.
Eindrücklich, ausdrucksstark und direkt lässt uns der Autor in sieben Kurzgeschichten ungeschönt und direkt an diesem beklemmenden Alltag der Menschen Nordkoreas, ihren Ängsten, ihren Nöten und ihrem Wunsch nach Freiheit teilhaben und liefert uns ein ziemlich detailliertes, klares Bild, ohne zu übertreiben. Sehr interessant ist auch die ungewöhnliche Geschichte des Buches, an der uns Thomas Reichert, Ostasien-Korrespondent des ZDF, in seinem Vorwort der deutschen Ausgabe teilhaben lässt: So soll der Autor unter Einsatz seines Lebens und mit Hilfe einer südkoreanischen Hilfsorganisation das Manuskript außer Landes geschmuggelt haben. 2014 erschien das Buch in Südkorea unter dem Titel „gobal“, was u. a. als Anklage übersetz und auch genau als solche gesehen werden kann. Ein lesenswertes, wenn auch bedrückendes Buch für all diejenigen, die sich immer schon ein Sichtfenster zu diesem verschlossenen Land gewünscht haben und eine wunderbare Mahnung an uns, unsere Freiheiten, die wir genießen dürfen, nicht für allzu selbstverständlich zu nehmen.