Rezension

Das Leben als Rolle

London NW - Zadie Smith

London NW
von Zadie Smith

Bewertet mit 5 Sternen

Zadie Smith lässt sich Zeit mit ihren Romanen. Nach ihrem 2000 - absolut zu Recht - gehypten Erstling "Zähne zeigen", fühlte sich die Autorin zunächst völlig überrannt und mit enormem Erwartungsdruck konfrontiert. 2005 erschien dann "Von der Schönheit", ein völlig anderes, aber ebenso großartiges Buch. Zadie Smith hat sich dabei ganz explizit an ein Großwerk der Literaturgeschichte angelehnt, und zwar an E.M. Forsters "Wiedersehen in Howards End". Sieben Jahre später hat sie sich nun wieder dieses Mittels bedient und mit "NW" einen an James Joyce geschulten Roman verfasst, der wieder völlig anders daherkommt. Sie lässt dabei den alleswissenden Erzähler meist völlig verschwinden und stellt ihre Figuren vor allem durch einen permanenten Bewusstseinsstrom vor. Sie verwendet dabei unterschiedlichste Stilmittel, die sich auch in den sieben unterschiedlichen Abschnitten sehr unterscheiden. Eine fortlaufende Prosa darf man nicht erwarten, vielmehr wechseln sich schnelle Assoziationen und Schnitte, Einzelszenen, Dialoge, Eindrücke und Rückblicke rasant ab. Es entsteht ein gewisser "flow", dem man sich als Leser ausliefern muss. Dabei überlässt es die Autorin dem Leser völlig, Personen oder Ereignisse zu werten oder einzuordnen. Durch unterschiedliche Perspektiven und Anordnungen werden diese vielmehr auch gegenseitig beleuchtet und charakterisiert. Dadurch kommt das Buch ganz nah an das Tempo und die Vielstimmigkeit einer Großstadt und der in ihr lebenden und ihr unterworfenen Individuen. Dies sind in erster Linie die beiden Freundinnen Leah und Natalie. Beide kennen sich bereits aus frühester Kindheit und trotz unterschiedlicher Herkunft - Leah stammt aus einer alteingesessenen irischen Familie, Natalie aus einer eher prekärem farbigen Umfeld - hat diese Freundschaft bestand. Beide stammen aus einem eher weniger privilegiertem Stadtteil im Nordwesten Londons - Kilburn. Hoher Migrantenanteil, eher trostlose wohn- und Bildungssituation. Doch scheint im heutigen London weniger die Hautfarbe das Leben vorherzubestimmen als die Klassenzugehörigkeit. Die Personen werden von daher auch selten als Weiße oder Farbige gekennzeichnet, oft erfährt man die Zugehörigkeit zu einer der Gruppen beiläufig, z.B. durch Erwähnung einer Afrokrause. Wichtiger ist, was man aus seinem Leben macht, wie man seine Chancen nutzt. Dieser moderne, auf den ersten Blick segensreiche Lebensentwurf birgt aber auch seine Tücken. Der Einzelne als Manager seines Lebens und Glücks ist auch leicht überfordert. Permanente Selbstbeobachtung, Selbstdarstellung und Selbsttäuschung sind da oft vorprogrammiert. Man muss die Rolle ausfüllen, so schnell man nach oben gelangen kann, so schnell kann es auch wieder nach unten gehen.

  "Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung."

Die beiden Freundinnen haben es nach außen im Gegensatz zu vielen ihrer ehemaligen Mitschüler geschafft.

Leah arbeitet in der Verwaltung und lebt mit ihrem Mann Michel in einer kleinen, aber gepflegten Wohnung. Dennoch ist sie seltsam haltlos, ehrgeizlos, ziellos. Dem von Michel sehnlichst herbeigewünschten Nachwuchs entzieht sie sich durch heimliche Abtreibungen oder Pilleneinnahme. Der erste, ihr gewidmete Teil des Buches, ist dem entsprechend sprunghaft, assoziativ geschrieben.

Natalie, die eigentlich Keisha heißt, wiederum hat sich mit enormem Fleiß und Ehrgeiz emporgearbeitet, ist angehende Kronanwältin, mit einem Traummann verheiratet, zwei Kinder, Traumwohnung. Dass diese Leben aber auch seinen Preis fordert und letztendlich gescheitert ist, erfahren wir im dritten Teil, einem bis in die Kindheit zurückreichenden Erzählteil, streng in 185, an Paragrafen eines Gesetzbuches erinnernde Kurz- und Kürzestkapitel.

Dazwischen liegt die Schilderung eines Abends im Leben von Felix, einem Altersgenossen von Leah und Natalie, auch er aus schwierigen Verhältnissen, seiner Drogensucht und dem Dasein als Dealer gerade entkommen, wird er den Abend nicht überleben.

Am Ende irrt Natalie mit einem alten, recht zwielichtigen Schulfreund verzweifelt durch das nächtliche London NW bevor sich im letzten Abschnitt die Fäden wieder kreuzen.

Von der Struktur her sehr anspruchsvoll und experimentell, liest sich der Roman nie anstrengend, sondern rasant und abwechslungsreich. Zeitlich angesiedelt zwischen der Bankenkrise 2008 und dem Ausbruch des isländischen Vulkans im Frühling 2010 bietet es eine grandiose Momentaufnahme vom Leben in der modernen Großstadt, intelligent, witzig und bei aller Kühle des Erzählens letztendlich doch tief berührend.