Rezension

Das Leben einer Mutter

Zwölf Leben - Ayana Mathis

Zwölf Leben
von Ayana Mathis

Bewertet mit 4 Sternen

Hattie gelangt als junges Mädchen mit ihrer Mutter und zwei Schwestern von Georgia nach Philadelphia. Sie fliehen genau wie ca. 6 Millionen anderer Afroamerikaner zur Zeit der Great Migration, also der Zeit zwischen 1910 und 1970, vor den Rassengesetzen der Südstaaten in den Norden der USA. Hier gründet Hattie schon mit siebzehn eine Familie und nennt ihre Zwillinge hoffnungsvoll Philadelphia und Jubilee. Niemals mehr will sie den Rassenhass und die Unterdrückung durch Weiße, die ihren Vater ermordeten, erleben. Doch so tragisch ihre beiden Kinder im Alter von sieben Monaten sterben, Opfer des kalten Winters im Norden und der Armut, der sie auch hier nicht entgehen können, so tragisch wird auch ihre Hoffnung auf ein neues, glückliches, selbstbestimmtes Leben scheitern. Mit ihrem Mann August wird sie acht weitere Kinder bekommen, eines mit einem Liebhaber, mit dem kurzfristig der Ausweg aus ihrem trostlosen Leben möglich scheint. Doch beide Männer können ihr keine Sicherheit, keinen Halt bieten. Überhaupt sind fast alle Männer des Buches schwache, dem Alkohol oder dem Glücksspiel ergebene Gestalten, die das Leben ihrer Frauen zerstören. Die elf Kinder Hatties und eine Enkeltochter sind nun die "Zwölf Leben" von denen Ayana Mathis in ihrem Debütroman erzählt. Es sind zwölf Leben, die nur wenig Berührungspunkte zueinander zu haben scheinen. Das mag daran liegen, dass die Geschichten in jeweils eigenen Kapiteln erzählt werden, die zudem zeitlich über die Jahre 1925 bis 1980 verteilt werden. Es hängt sicher aber auch mit der speziellen Familienstruktur zusammen. Es sind, wie im amerikanischen Originaltitel deutlich "The twelve tribes of Hattie", bezugnehmend auf die zwölf Stämme Israels, die das Volk Israels bilden, zwölf sehr unterschiedliche Menschen, verbunden nur durch ihre Mutter, die das Zentrum des ganzen Buchs bildet. Besonders stark ist deshalb das Buch auch immer dann, wenn es um Hattie kreist. Diese hat den Verlust ihrer ersten Babys nie verwunden. Es scheint, sie hat sich zukünftig die Entwicklung von Liebe und Zärtlichkeit zu ihren Kindern untersagt. So aufopferungsvoll sie für sie sorgt, so gefühllos ist ihr Umgang mit ihnen. Nur in den Momenten, in denen sie wirklich bedroht sind, kommt die verdrängte Mutterliebe mit Wucht empor. Das sind dann wirklich ergreifende Situationen, z.B. als sie Tochter, lebensbedrohlich an Tuberkulose erkrankt, im Krankenhaus liegt. Auch der Schluss des Romans, an dem es heißt. "Hattie legte den Arm um Sala und zog sie eng an sich; grob klopfte sie ihrer Enkelin auf den Rücken. Sie hatte wenig Übung mit Zärtlichkeit." ist solch ein Moment. Hatties Unglück in der Ehe und mit dem nie verebbenden Strom an neuem Leben, der ihre Fürsorge erfordert, hinterlässt auch Spuren im Leben ihrer Kinder. Es sind durchweg unglückliche, oft auch gescheiterte Menschen. Dabei wählt die Autorin eine für meinen Geschmack zu repräsentative Auswahl des Unglücks. Da ist der Homosexuelle, der nicht zu seiner Neigung zu stehen wagt, die psychisch Kranke, der Soldat im Vietnamkrieg, der Evangelikale etc. Auch werden durch die Beschränkung auf kurze Momente im Leben der Zwölf immer besonders tragische Situationen herausgegriffen. Dennoch gelingt es der Autorin ausgesprochen gut, die Personen lebendig werden zu lassen. Die Charaktere entwickeln eine enorme Tiefe, ihre Lebensbedingungen sind sehr anschaulich geschildert. Das Buch liest sich flüssig und gut.

Ayana Mathis ist mit ihrem Debüt ein beeindruckendes Porträt einer Frau und vielfachen Mutter gelungen abseits des Klischees der starken Frau. Auch Hattie ist stark, aber sie ist eben auch schwach, unglücklich verzweifelt, auf der Suche. Sie und ihre Kinder sind Figuren, die man sicher so schnell nicht vergisst.