Rezension

Das Leben mit all seinen Facetten

Atlantis - Stephen King

Atlantis
von Stephen King

Bewertet mit 4 Sternen

"Atlantis" (OT: Hearts in Atlantis) ist ein Roman, der auch als Novellensammlung bezeichnet wird. Dafür gibt es gute Gründe aber auch ein paar, die dagegen sprechen. Als ich mit der Lektüre begann, wusste ich nicht, dass es sich um fünf Geschichten handelt, die alle mehr oder weniger lose in Zusammenhang miteinander stehen. Und so ging ich unvoreingenommen an dieses Werk, ganz ohne Erwartungen und Forderungen – so wie man sich eben auch auf das Leben selbst einlassen muss.

"Es war einer jener unerwarteten Momente, wie wenn die Sonne an einem verregneten Tag einmal kurz durchkam, einer jener Momente, in denen es in Ordnung war, sich an etwas zu erinnern – in denen man erstaunlicherweise beinahe froh war, dabeigewesen zu sein."

· Niedere Männer in Gelben Mänteln ·
King entführt den Leser in die Sechziger Jahre, zu Beginn ganz konkret ins Jahr 1960. Bobby Garfield feiert seinen elften Geburtstag, wobei feiern wohl zu viel gesagt ist, denn seine Mutter arbeitet länger und das versprochene Essen muss deshalb ausfallen. Als Geschenk bekommt er einen Bibliotheksausweis für Erwachsene, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Fahrrad. Doch das Geld ist knapp, behauptet die Mutter, und so macht Bobby das Beste aus der Situation. Sein Leben wird ordentlich durcheinandergerüttelt, als ein neuer Mieter in die Nebenwohnung zieht. Ted Brautigan ist zwar ein wenig seltsam aber Bobby freundet sich schnell mit ihm an, sieht in ihm einen Mentor und eine Art Vaterfigur. Doch Ted hat ein Geheimnis und er fürchtet sich vor den "Niederen Männern" in gelben Mänteln. Bobby tut dies zunächst als Schrulligkeit ab, muss dann aber bald erkennen, dass es die ominösen Verfolger wirklich zu geben scheint.

Diese Novelle ist schlichtweg grandios, vor allem, wenn man Stephen Kings Dunklen Turm-Zyklus kennt. Es gibt zahlreiche Verbindungen und Bezüge, die das Lesen zu einem wahren Erlebnis werden lassen. Außerdem ist es eine wunderschöne tragische und wehmütige Coming Of Age-Geschichte, die anrührt. Freundschaft, (erste) Liebe, Verlust und Gewinn sind zentrale Themen. Wir erleben den letzten Sommer eines Kindes, das auf der Schwelle zum Erwachsensein steht.

· Herzen in Atlantis ·
1966: Pete Riley ist Student der University of Maine und verfällt wie so viele andere seiner Kommilitonen dem Kartenspiel "Hearts", was dazu führt, dass sich seine Noten rapide verschlechtern. Carol Gerber, die wir aus der ersten Novelle bereits kennen, studiert ebenfalls hier und zwischen den beiden jungen Erwachsenen knüpft sich ein zartes Liebesband. 

In dieser Geschichte versucht King, die Probleme der Jugend in den 60er Jahren vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den Vietnamkrieg, darzustellen. Spielsucht und andere Ablenkungen sorgen für schlechte Noten, was wiederum zum Verlust des Studienplatzes und möglichem Einzug in den Krieg führt. Mit diesem Thema habe ich mich schwer getan, weil es für mich einfach zu abstrakt, zu weit weg und damit nicht greifbar war. Leider enttäuschend nach dem beeindruckenden Einstieg.

· Blind Willie ·
1983: Wir treffen Willie Shearman aus der ersten Geschichte wieder. Der Krieg hat ihn traumatisiert und seine Taten in Form von Gewalt gegenüber der jungen Carol Gerber in der Vergangenheit lasten zusätzlich schwer auf ihm. Als Akt der Wiedergutmachung führt er ein kurioses Doppelleben als blinder Bettler.

Was für eine skurrile Geschichte, die mich leider nicht überzeugen konnte und auch etwas ratlos zurückgelassen hat.

· Warum wir in Vietnam sind ·
1999: John Sullivan (Sully-John), der beste Freund aus Kindertagen von Bobby und Carol, ist mittlerweile erfolgreicher Gebrauchtwagenhändler. Auf der Trauerfeier eines Kriegsveteranen trifft er auf seinen ehemaligen Lieutenant und tauscht Kriegserlebnisse mit ihm aus. Dieses Gespräch wühlt ihn sehr stark auf und bringt schreckliche Erinnerungen mit sich. Auf dem Heimweg holen ihn diese dann schließlich ein.

"Kriege starben immer nur stückweise, ein winziges Stück nach dem anderen, und jedes Stück fiel wie eine Erinnerung, jedes Stück verlor sich wie ein Echo in weitläufigen Hügeln. Letzten Endes hisste sogar der Krieg die weiße Fahne. Das hoffte er jedenfalls. Er hoffte, dass letzten Endes sogar der Krieg kapitulierte."

Hier konnte mich King wieder fesseln. Besonders den letzten Teil der Story habe ich atemlos und gebannt verfolgt. King verdeutlicht hier in seiner typischen Art, wie verwundet und verstümmelt Seele und Psyche eines Menschen aus dem Krieg zurückkehren. Erschreckend und ein wahrer Augenöffner.

· Heavenly Shades Of Night Are Falling ·
1999 – Bobby kehrt in seine Heimatstadt Harwich zurück, weil er seinen alten Baseballhandschuh zugesandt bekommen hat. Darin eine Botschaft, deren Geheimnis er nun lüften will.

Der Kreis schließt sich, denn Ka ist ein Rad. Diese Novelle ist mit der ersten Geschichte verknüpft und schließt direkt an die vorige an. Sie ist ein gelungener Abschluss und lässt den Leser ganz ohne Kitsch gerührt zurück.

Und so ist dieser Roman eben doch eine große ganze Geschichte. Aus feinen Einzelfäden knüpft King ein dichtes Netz, das den Leser gefangen nimmt und ihm letztlich offenbart, dass aus Liebe und Freundschaft eine Verbundenheit wachsen kann, die die Zeiten zu überdauern vermag. Es ist das Portrait einer ganzen Generation, das hier gespiegelt wird. Dinge und Menschen, die verloren schienen, wurden letztlich wiedergefunden. In der Vergangenheit liegen die Wurzeln, die darüber mit entscheiden, wer wir später werden. Die Protagonisten durchleben Kindheit, Erwachsenwerden und schließlich das Erwachsensein – das Leben eben mit all seinen Höhen und Tiefen.

Fazit

King nimmt uns mit auf eine wohl sehr persönliche Reise, die aber auch das Lebensgefühl einer ganzen Generation widerspiegelt. Facettenreich, vielschichtig, nicht immer nach meinem Geschmack und doch insgesamt gute Unterhaltung, die mit starken Emotionen und leisen Tönen besticht. Vor allem für Kenner seines Magnum Opus "Der Dunkle Turm" ist dieses Werk ein besonderer Genuss.