Rezension

Das Marschmädchen aus North Carolina

Der Gesang der Flusskrebse - Delia Owens

Der Gesang der Flusskrebse
von Delia Owens

Bewertet mit 5 Sternen

»Wer sich auf jemanden stützen kann, bleibt auf dem Boden.«

Kya Clark ist sechs Jahre alt als ihre Mutter ohne ein Wort des Abschieds fortgeht. Sie ist das jüngste von fünf Geschwistern, die alle bald darauf dem Beispiel der Mutter folgen und ihr Heil in der weiten Welt suchen. Eine notwendige Flucht, denn der Vater, ein vom Krieg traumatisierter Mann, ist dem Alkohol stark zugetan und verprügelt oft Frau und Kinder. Fortan lebt das Mädchen allein mit dem Vater, der zumindest für kurze Zeit versucht, seiner Rolle gerecht zu werden. Doch der Schmerz und das Kriegstrauma sitzen zu tief und auch er verschwindet irgendwann. Zurückgelassen in einer schäbigen Hütte und mit einem alten Fischerboot lernt Kya zu überleben, bildet sich selbst so gut es geht weiter, verkauft Muscheln und Fisch, um Streichhölzer, Maisgrieß und Benzin für das Boot zu kaufen, sie sammelt Federn, zeichnet und archiviert sie akribisch, sucht Trost und Geborgenheit in der Natur des Marschlandes. Der Versuch einer Solzialarbeiterin, sie in die Gesellschaft des Küstenstädtchens Barkley Cove einzugliedern scheitert kläglich. Einsamkeit und Abgeschiedenheit bedeuten Sicherheit für Kya, die schon bald von allen nur noch »das Marschmädchen« genannt wird.
Jahre später wird die Leiche von Chase Andrews, dem Platzhirsch von Barkley Cove, am Fuß des Feuerturms gefunden. Gerüchte werden laut und schnell ist ein möglicher Täter gefunden – das Marschmädchen. Aber war es wirklich Mord oder doch nur ein Unfall und wa hat Kya damit zu tun?

Leseeindruck

»Der Gesang der Flusskrebse« (OT: Where the Crawdads Sing) ist ein auf besondere Weise faszinierender Roman, der mich von der ersten Seite an in seinen Bann ziehen konnte. Erzählt wird zum einen die Geschichte eines Kindes, das unter widrigen Umständen im unberührten Marschland aufwächst, zur Einzelgängerin wird aber dennoch ihren Platz in der Welt und später auch Gesellschaft findet.

»Das Leben hatte aus ihr eine Expertin darin gemacht, Gefühle auf lagerfähige Größe zu quetschen. Aber Einsamkeit hat ihren eigenen Kompass.«

Es ist also ein Coming-of-Age-Roman mit wunderbar herausgearbeiteten Charakteren, gleichzeitig aber auch ein ruhig erzählter Krimi, der gerade im letzten Drittel dann an Fahrt aufnimmt. Zudem erfahren wir viel über Kyas Heimat, die Flora und Fauna des Marschlandes an der Küste North Carolinas. Dieses Wissen, das die Autorin Delia Owens selbst mitbringt, hat sie harmonisch und unaufdringlich aber doch eindrucksvoll in die Handlung mit eingewoben. Es sind diese Naturbeschreibungen in Kombination mit der wunderschönen Sprache sowie die konstant spannende Geschichte mit ihren bunten Figuren, die mich fesselten und gleichermaßen begeistern konnten.

»Ich hab nich gedacht, dass Wörter so viel meinen können. Ich hab nich gewusst, dass ein Satz so voll sein kann.«

Owens erzählt Kyas Geschichte und auch alle anderen damit verbundenen Handlungstränge nicht stringent, vielmehr wechselt sie zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her bis dann schließlich beide Zeitlinien an einem Punkt zusammenfließen. Diese Art des Erzählens baut nicht nur konstante Spannung auf, sondern lässt sich die Geschichte auch scheibchenweise entfalten – wie die Blätter einer Blüte – ganz im Sinne Søren Kierkegaards: »Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben muß man es aber vorwärts.«

Fazit

Ein kluger und gefühlvoller Roman ist »Der Gesang der Flusskrebse« in meinen Augen definitiv. Außerdem es ist auch eine spannende und traurigschöne Geschichte, die zum Nachdenken und Reflektieren anregt. Ausgrenzung, Anderssein, der tägliche Kampf um das Leben und die Liebe, das Leben im Einklang mit sich und der Natur, Vergebung, Zusammenhalt, Freundschaft – dies alles wird hier thematisiert. Eine Lektüre, die mich begeistern konnte und deshalb auch eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle die, die einem ruhig erzählten Südstaatenroman etwas abgewinnen können.