Rezension

Das Psychogramm einer Familie

Gewittertiere -

Gewittertiere
von Svealena Kutschke

Was sind eigentlich Gewittertiere/Gewittertierchen? Das sind diese klitzekleinen, schwarzen Insekten von 1 bis 3 mm Größe nur, die bei Gewitter aufgrund der Luftdruckveränderung in niedere Luftschichten sinken und sich dadurch in unseren Häusern und auf unserer Haut niederlassen. Nicht weiter bedrohlich, nur nervig. Fast könnte dies auch für die Familienmitglieder gelten, die Svealena Kutschke in ihrem gleichnamigen Roman porträtiert. Nur hat sich der Verlag nicht ohne Grund dafür entschieden, auf dem Cover statt den kleinen Tierchen bedrohliche Boa constrictor Schlangen abzudrucken. Was in dieser gewöhnlichen bundesrepublikanischen Familie, die wir beginnend ab den 1980er Jahren bis in die Gegenwart hinein begleiten, zunächst nur wie nervige Angewohnheiten und Mechanismen innerhalb dieser Familie daherkommt, wirkt zunehmend bedrohlich.

Die Familie Becker besteht – ganz prototypisch – aus Mutter, Vater, Tochter und Sohn. Könnte alles ganz normal und unkompliziert sein, aber wie wir wissen, ist es das beim Thema Familie nur selten. Mit dem Mauerfall steigen die Ängste des Vaters vor Zuwanderungen aus dem Osten, später von überall her. Er beginnt im kleinen Garten der Reihenhaussiedlung eigenhändig das Loch für einen Bunker auszuheben und wird einige Jahre mit diesem Lebensprojekt beschäftigt sein. Während in der Realität die Übergriffe auf sog. Ausländer(-heime) zunehmen, nehmen auch die Ressentiments des Vaters zu. Er sieht die Gefahr von außen, obwohl sie in dieser Familie von innen kommt. Die Mutter ertränkt ihre Sorgen im Alkohol. Und beide Eltern vernachlässigen dabei mit langfristig erschreckenden Folgen ihre beiden Kinder. So heißt es an einer Stelle des Romans treffend „Nichts, was ihnen [den Kindern] geschah, schienen die Eltern zu sehen.“ Die Geschwister sind Außenseiter und werden bis in ihr belastetes Erwachsenenleben nur schwer aus dieser Rolle herauskommen. Kein Wunder, geplagt durch ständige Selbstzweifel, gesät von dem Neglect der Eltern.

Kuschkes Roman folgt zwar über weite Strecken Colin (Cornelia), die Tochter der Familie, wirft jedoch mit seiner auktorialen Erzählperspektive immer wieder auch kritische Blicke auf die Lebensverläufe der anderen Familienmitglieder. So bekommt die Leserschaft einen intensiven Einblick in die Mechanismen einer dysfunktionalen Familie. Man könnte diesen Roman das Psychogramm des Systems Familie nennen. Hervorragend stellt die Autorin psychologische und soziologische Zusammenhänge innerhalb des Romangeschehens dar. Fast seziert sie dieses familiäre System bis ins kleinste Detail. 

Dies hatte für mich zur Folge, dass ich zunächst tatsächlich über die ersten 100 Seiten hinweg gar nicht richtig in den Roman hineingefunden habe. Man muss sich auf diesen langsamen, alles ausleuchtenden Stil einstellen, danach eröffnet sich das volle Potential des Buches erst so richtig. Beinahe hätte ich sogar innerhalb dieses ersten Drittels das Buch sogar abgebrochen, da ich nicht einschätzen konnte, wohin die Autorin mit ihrer Geschichte eigentlich will. Zum Glück bin ich dabeigeblieben, denn diese Fallvignette zur Familie Becker entwickelt einen starken Sog. Allein der Schluss konnte mich dann nicht mehr so recht überzeugen. Man könnte dem Roman zu viel Psychologisierung vorwerfen, zunächst kam mir dies auch so vor, im Gesamteindruck des Buches ist dieses vollständige Auserzählen für mich allerdings zu einer Stärke avanciert.

Es heißt im Roman „Colin wusste natürlich, dass Erzählungen normalerweise eine gewisse Dramaturgie brauchten, jede Form von Konflikt brauchte eine Lösung, jedes Narrativ ein Ende.“ Das ist in dieser Geschichte meines Erachtens nicht so. Lange Zeit vermisst man eine gewisse Dramaturgie, nicht jeder Konflikt kann gelöst werden und auch das Narrativ dieser familiären Prägung wird mit dem Ende des Romans noch kein Ende im Leben der beiden Geschwister finden. Und genau das macht diesem Roman so lesenswert. Hier werden Zusammenhänge dargestellt, dysfunktionale Mechanismen offengelegt, aber nichts einfach mal so nebenher gelöst. So funktioniert unsere Psyche nicht.

„Denn letztendlich hatte auch Colin sich die Absurdität des Bunkers nie in vollem Umfang klargemacht. Das war es, was ein Familiengewebe von jedem anderen unterschied: die Fähigkeit, vollkommen eigene Realitätsbezüge zu schaffen.“

Für mich handelt es sich hierbei um einen äußerst lesenswerten Roman, der zwar kleine Schwächen hat, über die man aber ob der über lange Strecken hinweg intensiven Leseerfahrung getrost hinwegsehen kann.