Rezension

Das schwere Urteil

Kindeswohl
von Ian McEwan

Fiona Maye ist eine angesehene Richterin am High Court in London, bekannt für ihre Gewissenhaftigkeit. Mit ihrem Mann Jack, einem Geschichtsprofessor, ist sie seit mehr als dreißig Jahren verheiratet – harmonisch, wenn auch in letzter Zeit vielleicht ein wenig distanziert. So fällt Fiona aus allen Wolken, als er ihr eröffnet, dass er ihren Segen für eine außereheliche Affäre will.
Genau in diesem Moment wird ihr ein eiliger Fall vorgelegt: Ein 17-jähriger Junge, der an Leukämie leidet, benötigt dringend eine Bluttransfusion. Aber seine Familie – Zeugen Jehovas – lehnt das aus religiösen Gründen ab. Genauso wie er selbst. Doch ohne Transfusion wird er qualvoll sterben. Fiona bleiben für ihr Urteil weniger als 24 Stunden. Kann sie jetzt, inmitten ihres emotionalen Tumults, ihre kühle Professionalität bewahren? 
(Verlagsseite) 

Nach dem süffisant-ironischen „Honig“ wechselt McEwan mit diesem Buch nun wieder auf die andere Seite, die alltäglich-realistische.
Fiona ist eine gut situierte 59-jährige Frau, kinderlos verheiratet, als Richterin täglich konfrontiert mit familien- und sozialrechtlichen Prozessen, in denen sie Urteile fällen muss, die nicht nur mit dem englischen Recht konform gehen, sondern auch ihr Gewissen fordern. Oft muss sie zwischen Pest und Cholera entscheiden, kann in den meisten Fällen nicht allen Parteien gerecht werden und muss dennoch Tag für Tag in die Zukunft von Kindern, Eltern und Behörden eingreifen. Sie macht es sich nicht leicht, braucht Zeit zum Studieren alter Gerichtsurteile und zum Nachdenken; darunter leidet ihre eigentlich zufriedene Ehe, so dass ihr Mann sich außerhalb vergnügen möchte – aber nicht ohne ihr Einverständnis. Das gibt sie ihm nicht.
Mitten in ihrer verzweifelten und verwirrenden privaten Situation hat sie ein Urteil zu fällen, das schon in ruhigen Zeiten mehr als schwierig wäre. Es geht nicht darum, dass sie eine Behandlung auf der Basis des gesunden Menschenverstandes, die lebensnotwenige Bluttransfusion, anordnet, sondern um die Frage, ob der 17-jährige Adam nach Erwachsenenrecht zu beurteilen ist – also keine medizinische Behandlung gegen seinen Willen – oder ob andere über ihn zu bestimmen haben. Fiona begibt sich ins Krankenhaus, um den jungen Mann persönlich kennenzulernen und seine Urteilsfähigkeit zu bewerten.
Dass ihr Besuch solch umfassende Konsequenzen nicht nur für Adam und seine Familie, sondern auch für sie selbst haben könnte, konnte sie nicht einberechnen. Oder hat es provoziert ohne an Folgen zu denken.

McEwan breitet eine ganze Palette Anliegen aus, die auf den Gewissensentscheid zielen, und den Leser herausfordern: Was ist höher zu bewerten, die Freiheit (auch auf den eigenen Tod) oder das aufgezwungene Leben? Wie weit darf religiöser Glaube gehen und wo sind seine Grenzen? Wann beginnt Verantwortung und wann endet sie?
Der Autor stellt gesellschaftlich relevante Fragen ohne in das Minenfeld aktueller politischer Auseinandersetzungen zu treten. 

Gleichzeitig bleibt er dicht bei Fiona Maye, geht mit seiner Protagonistin emotional ins Detail. In ihrer Arbeit, in ihrer Person verkörpert sich das Spannungsfeld der Verantwortung. Einerseits für ihre Ehe: Wo ist ihr Anteil am Scheitern? Andererseits für Adam, den sie nicht nur vor seiner Religion, sondern auch vor sich selbst retten soll. Wenn aber sie es ist, die sein Überleben in die Hand nimmt, wie reagiert sie, wenn er den bisherigen Halt verliert und nach dem einzig neu Vertrauten, nach ihr greift? 

Mit jedem Roman begibt McEwan sich auf ein neues Feld. Medizin, Physik, Spionage, u.a. hat er schon beackert, diesmal ist das Recht an der Reihe. Immer ist er gut gerüstet, hat recherchiert und bedankt sich bei Fachleuten.
„Kindeswohl“ gehört zu McEwans besten Romanen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 22. Januar 2015 um 16:52

Jetzt musst du nur noch drauf achten, dass du auch eine Wertung vergibst, bevor du die Rezension als fertig sendest. Dann ists perfekt!