Rezension

Das wunderbare Eintauchen ins unglaubliche Leben eines Mannes mit zwei Müttern

Mein langer Weg nach Hause - Saroo Brierley

Mein langer Weg nach Hause
von Saroo Brierley

Ein Jugendlicher, der auch ein Jahrzehnt nach seinem Verloren-gehen auf dem indischen Subkontinent, seine "... Vergangenheit nicht vergessen (hatte) ... (und) nach wie vor entschlossen, kein Detail (seiner) Kindheitserinnerungen aus dem Gedächtnis zu verlieren." Ein junger Erwachsener, der seine indischen Wurzeln auch dank seiner liebevollen und unterstützenden zweiten Familie nie vergessen hat. Und sich auf lange Suche macht ....

Inhalt: 

Der indische Junge Saroo ist fünf Jahre alt, als er bei seiner Adoptivfamilie im australischen Hobart ein zweites/neues Zuhause findet. Ein Zuhause nach dem Lebensstandard der westlich-bürgerlichen Welt mit einem eigenen Zimmer. Die ersten fünf Jahre seines Lebens hat er in einer gemauerten Einraumhütte mit Wasserhahn in Zentralindien verbracht. Der einzige Abstellplatz war hier den Decken vorbehalten. Da waren kein Platz und kein Geld für Statuen und besondere Tischwäsche, wie sie Saroos Adoptiveltern in ihrem Haus platziert und ausgelegt haben, um dem Jungen die Eingewöhnung in sein neues Leben mit neuer Kultur und Sprache usw. zu erleichtern. 

Saroo lebte in der Einraumhütte mit seiner Mutter, seinen zwei älteren Brüdern und seiner jüngeren Schwester. Das Geld, was die alleinerziehende Mutter u.a. auf dem Bau verdiente, und der große Bruder als Tellerwäscher hinzuverdiente, reichte oft nicht fürs Essen. Saroo ging bei Nachbarn um Essensreste betteln. Doch er dachte sich nichts dabei. Es gehörte zu seinem Leben dazu. Das einzige was ihm fehlte, war die Chance die Schule zu besuchen.

Seine komplette Kindheit hindurch und auch später als Jugendlicher und Erwachsener haben ihn seine Bilder im Kopf - seine Erinnerungen - begleitet. Sie kannte er gut. Sie hatte er "sorgsam behandelt" auf die Insel Tasmanien mitgebracht und „gepflegt“. Seine Adoptiveltern, seine indisch-stämmigen Nachbarn, einer seiner Lehrerinnen und viele andere prägende Menschen in Saroos Lebensumfeld haben ihm Zeit seines Lebens in Tasmanien durch ihr Verhalten gezeigt, dass er sich ihnen mitteilen könne. Für ihn und für diese Menschen war es wichtig, dass er sich an die Orte und Ereignisse seiner frühesten Kindheit erinnerte. Er sollte seine Vergangenheit nicht vergessen. Und das hat er auch nicht. Als Kind notierten diese Menschen seine Erzählungen, ließen seine Erinnerungen durch erneutes Erzählen mit einem immer größer werdenden englischen Sprachwortschatz nicht in Vergessenheit geraten. Sie bewahrten seine Erinnerungen an Orte und Ereignisse in ihre Notizen für ihn auf. Sie begleiteten sein Heranwachsen mit Fotos. Und der heranwachsende Saroo, der sich in seiner neuen Familie und in seinem Umfeld wohl fühlt, will seine Ursprungsfamilie und sein Leben auf dem indischen Subkontinent auch nicht vergessen.             

Als Erwachsener - 25 Jahre später - findet Saroo zurück nach Hause. Es war ein langer Weg mit vielen „Reisen“ auch in seinem Inneren. Seine Erinnerungen, der Austausch mit anderen adoptierten Kindern sowie indischen Mitstudenten am College haben seine Suche beeinflusst und in Gang gesetzt. Aber besonders die Technik der digitalen Satellitenbilder und die Möglichkeiten derer Nutzung mit Google Earth haben ihm geholfen, und seine erfolgreiche Suche ermöglicht. Zu guter Letzt hat ihm das soziale Netzwerk Facebook die Sicherheit gegeben, dass seine Suche nach seinem Geburtsort Ginestlay (Ganesh Talai) erfolgreich war. 

 

Aufbau und Rezeption des Buches:

„Folgen Sie mir. Ich führe Sie zu Ihrer Mutter“, sagt der fremde Mann auf Englisch. Gleich wird Saroo als Dreißigjähriger nach 25 Jahren seine unfreiwillig aus den Augen verlorene (indische) Mutter wiedersehen. Damit beginnt der Autor Saroo Brierley seine niedergeschriebene Lebensgeschichte im Prolog dieses Buches. Im Buch wird die Geschichte auch so enden, ein Wiedersehen nach 25 Jahren. Die Geschichte des Mannes mit einem indischen Vornamen "Saroo" und einem englisch-australischen Nachnamen "Brierley". Die wahre Geschichte, die schon 2012 weltweit durch die Medien ging. 

Seinen Lebensweg dazwischen erzählt der Autor in seiner 250-seitigen Autobiographie in 13 Kapiteln mit kurzen aussagekräftigen Kapitelüberschriften in drei Teilen: Der 1. Teil beschäftigt sich mit seinem Leben in Indien, der 2.Teil erzählt sein Heranwachsen in Australien, im 3. Teil macht er sich auf die Suche und findet seine indische Familie. 

In der Autobiographie erfährt der Leser in den ersten vier Kapiteln des Buches von der Vergangenheit des Autors in Indien (1. Teil). Er schreibt seine Geschichte als Erwachsener nieder. Ihm ist klar, dass viele seiner Erinnerungen verändert sind, zum Teil verloren sind. Beeinflusst auch durch das viele Nacherzählen, sein kindliches Alter und seinen nicht so großen Sprachwortschatz in seiner Muttersprache. Auch Saroos eigener erwachsener Blickwinkel auf seine Erinnerungen, seine kindlichen „Deutungen“, die "Äußerungen" von anderen Menschen zu seinen Erinnerungen während seines Heranwachsens in Australien haben seine Erinnerungen indirekt verändert. Genauso wie die sehr gegensätzlichen Lebensumstände in Indien und Australien auch Einfluss darauf hatten, und neben seinen Erinnerungen an die Vergangenheit auch seine Gegenwart und Zukunft geprägt haben.

Über sein Heranwachsen im australischen Bundesland Tasmanien erfährt der Leser in den folgenden drei Kapiteln (2. Teil). Hierbei zeigt der Autor auch in dem Kapitel „Mums Reise“ die Lebensgeschichte seiner (australischen) Mum auf. Er schildert die emotionale Entwicklung seiner Mum vom Kind zu der erwachsenen Frau, die er kennengelernt hat. In diesen gut zehn Seiten zeigt er die Dankbarkeit, die er ihr gegenüber empfindet, aber besonders seine Liebe für sie und beschreibt die Frau mit Worten, die seinen Stolz auf seine Mum wiederspiegeln. Mit diesem Kapitel setzt er ihr eine Art „Denkmal“ – zeichnet ein Bild einer ungewöhnlichen, modernen, liebevollen, starken und mutigen Frau der ersten Flüchtlingsgeneration, die nach dem 2. Weltkrieg in einem für ihre geflüchteten Eltern völlig unbekannten Kontinent heranwächst. 

Vor der - trotz weniger gemeinsamer Jahre - ihren Sohn sehr prägenden (indischen) Mutter und ihrem stetigen Glauben ihren jüngsten Sohn eines Tages wieder zu sehen, kann der nie hungernde und nie frierende Leser nur den Hut ziehen. Er lernt in drei Kapiteln des Buches (3. Teil) eine arme Frau kennen, die nie aufgibt und dem Leben positiv entgegentritt. Eine Frau, die ihren Optimismus und ihr Durchhaltevermögen ihrem jüngsten Sohn vererbt hat. Saroo beschreibt es so: „Mir wurde allmählich bewusst, dass so, wie meine Suche nach meiner Mutter mein Leben geprägt hatte, sich auch ihr Glaube, dass es mich noch gab, maßgeblich auf ihr Leben ausgewirkt hatte.“ 

Rückblickend auf Saroos 30 Lebensjahre, über die er in diesem Buch geschrieben hat, kann man zusammenfassend sagen. Er hat alles dafür getan, dass er nicht komplett vergisst, was einmal war, so dass es ihn eines Tages wieder zurück gebracht hat zu seinen Ursprüngen. Und er hat erkannt, wo sein zu Hause ist.       

Als Erwachsener schreibt Saroo über sein Leben in Indien: "Manche dieser Erinnerungen waren schön, andere schlimm, doch ich konnte die einen nicht ohne die anderen halten und hielt darum an allen fest." Besonders die unfreiwillige Trennung von seiner indischen Familie, über die er im 2. Kapitel „Aus den Augen verloren“ des Buches schreibt, als auch die Erlebnisse in den beiden darauffolgenden Kapiteln machen Saroo zu einem Menschen, dem Glück im Unglück mehrfach zuteilwurde. Das ist dem erwachsenen Mann auch mehr als bewusst. 

Eingeschlafen auf einer Bank in einem Zug am Bahnhof seines Herkunftsortes. Aufgewacht während einer mindestens 15-stündigen unfreiwilligen Zugreise. Eingeschlossen, er kann den Wagen des Zuges nicht verlassen. „Überleben“ will er in Kalkutta – dem Ziel der Zugfahrt – Endlich öffnen sich die Türen des Zuges, und er kann den Zug (sein „Gefängnis“) verlassen. Er ist trotz allem was jetzt schon hinter ihm liegt von positiven Gedanken beseelt: „… und wusste, dass ich stark sein musste, wenn ich die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihr (der indischen Familie) am Leben halten wollte. Wenn ich sie aufgäbe, würde ich gänzlich verschwinden und vielleicht sogar sterben …“ 

Doch seine Zeit in als herumirrender Fünfjähriger in Kalkutta endet mit der Begegnung einer Frau, der er 25 Jahre später wieder gegenüber steht. Der Inderin, die seine Adoption in die Wege geleitet, organisiert und begleitet hat. Nicht nur seine (indische) Mutter wird er finanziell unterstützen, sondern auch die Arbeit einer mittlerweile 80jährigen Frau: „Gleichzeitig widme ich einen Teil meiner Zeit einer anderen Frau, die mir überaus viel bedeutet und ohne die es nie zu dieser Geschichte gekommen wäre: Sarooj Sood“

 

Die autobiographische Geschichte von Saroo Brierley ist die Suche eines Kindes und eines Erwachsenen nach der eigenen bedeutungsvollen Vergangenheit, keine Sinnsuche eines jungen Mannes, der nicht weiß, wo er im Leben hingehört oder gar, wer er ist. Denn der Junge Saroo findet in der anderen "Welt" (Tasmanien) schnell Vertraute, die ihn dabei unterstützen, seine Erinnerungen lange wach zu halten, er findet Freunde, und die Liebe zum Sport. 

Es ist eine Geschichte eines zielstrebigen, selbstbewussten Jungen und Mannes, der sein Leben hinterfragt, auch mal eingeschlagene Wege verlässt oder zurückgeht. Wer oder was den Autor dieser biographischen Erzählung zu dieser Persönlichkeit hat werden lassen. Sein angeborener optimistischer, lebensbejahender Charakter, sein Lebensweg und das Glück, was ihm zuteilwurde, und die Menschen, die ihn begleitet haben (seine indische und seine australische Familie, seinen indischen und seine australischen Freunde, Sarooj Sood und andere Vertraute und Wegbegleiter, Wegbereiter). Ich denke alles - seine Charakter, die "glücklichen" Lebensumstände, und auch alle diese Menschen haben dabei mitgespielt. Und ihn zu dem Menschen gemacht, den der Leser als Erwachsener kennenlernt. 

Der Schreibstil des Autors gewährt dem Leser einen Einblick in seine Gedanken, Gefühle und Wünsche, oder soll ich besser anstatt Wünsche Ziele sagen!? Es ist eine emotionale Geschichte, die aber nie kitschig ist oder die Protagonisten vorführt. Es ist ein Roman, der bei dem Leser positive Gefühle hinterlässt. Kein Moment während des Lesens lässt den Leser trübsinnig zurück, höchstens nachdenklich. Doch dann ist er wieder begeistert von dem Werdegang dieses Kindes, Jugendlichen und Erwachsenen und den Menschen, die an seinem Leben entweder durch ihre körperliche oder durch ihre mentale (erinnerte) Anwesenheit teilhaben. Es sind die Umstände, die Saroos Leben prägen, was in ihm als Kind und als Erwachsener vorgeht, gespickt natürlich mit einem komplett erwachsenen Blick auf die vergangenen Ereignisse seines Lebens, die er hier in diesem Buch beschreibt. Doch die Sprache des Buches – der Schreibstil- lässt schon den jugendlichen Leser in die Erzählung eintauchen. Denn einem Eintauchen in die Geschichte kommt es gleich, wenn man den Buchdeckel aufklappt und die ersten Sätze der Lebensgeschichte liest.

Die optische Aufbereitung des Inhalts der Geschichte spiegelt sich in den Kapitelüberschriften wieder. Diese Überschriften fassen den Inhalt der Kapitel manchmal nur in einem Wort zusammen wie die Überschrift „Überleben“ - in der Stadt Kalkutta als Fünfjähriger, wie der Leser im Inhalt des Kapitels erfährt. Diese prägnante Ausdrucksweise in den Überschriften hat nicht das Ziel effekthaschend zu sein oder die Spannung weiterhin aufrecht zu erhalten, das braucht die Geschichte nicht. Weiterlesen tut man sowieso. Nein diese Überschriften sind sehr emotional – spiegeln die Gefühlswelt des Kinders, Heranwachsenden und Erwachsenen wieder. Und der serifenlose Schrifttyp in der Kapitelüberschrift gibt ohne Schnörkel die Tatsachen im Leben dieses Jungen wieder. Es braucht nicht viel, um zu verstehen, und zu wissen, was sich hinter der Überschrift „Gefunden“ im 3. Teil des Buches verbirgt.

Auch im Buchdeckel findet der Leser beide Teile des Lebens von Saroo wieder – das indische Leben – seine Ursprünge – gibt der gelbe an indische Gewürze erinnernde farbliche Hintergrund des Einbandes wieder. In einem geschwungenen hellgelben Ornament steht der Titel des Buches „Mein langer Weg nach Hause“ in roten Lettern. In der Mitte des Buches schemenhaft kann der Betrachter die Umrisse des Bahnhofes in Kalkutta erkennen. 

Beide LebensWelten von Saroo treffen hier aufeinander. 

Der Untertitel des Buches „Wie ich als Fünfjähriger verlorenging und 25 Jahre später meine Familie wiederfand“ steht außerhalb des Ornaments. Seine schwarze Schrift fügt sich in die Abbildung eines Fotos optisch ein. Das Foto zeigt Saroo als Fünfjährigen in einem weißen T-Shirt mit dem schwarzen Schriftzug Tasmanien. An seiner Schulter hängt eine Tasche, in der wie der Leser später weiß, all das drin ist, was er von seinen Adoptiveltern als Willkommensgeschenk und zum Kennenlernen seiner neuen Heimat ins indische Kinderheim geschickt bekommen hat. Der Junge geht auf diesem Foto. Seine Lebensreise geht auf einem anderen Kontinent weiter, und sie wird ihn auch von diesem Kontinent ausgehend wieder auf den Kontinent zurückbringen, wo er das Licht der Welt erblickt hat.

Der Buchdeckel beschreibt alles, was den Leser in der Geschichtet erwartet. 

 

Fotos im Inneren des Buches zeigen gleich zu Beginn Saroo und seine australische und seine indische Familie. Weitere Fotos im mittleren Teil des Buches dokumentieren seine Suche in Fotos und Satellitenbildern und seine Rückkehr nach Kalkutta in das Kinderheim, wo seine Reise nach Australien ihren Anfang nimmt. 

Das Ende seiner Reise gibt die Innenseite des hinteren Buchdeckels wieder, einen Ausschnitt einer indischen Landkarte, auf der der mögliche Verlauf der Zugfahrt nach Kalkutta durch gestrichelte rote Linien abgebildet ist. Und der Kreis des Lebens des Autors schließt sich wieder am Ende des Buches, den er tritt diese Reise nach Kalkutta erneut an. Diesmal ist sie der Anfang eines Lebens mit zwei Familien auf zwei Kontinenten. Und er schließt seine niedergeschriebene Lebensgeschichte, die der Leser dieses Buches begleiten durfte, an der er teilhaben durfte mit den Worten „… bin ich überzeugt, dass alles was mir als kleiner Junge bis hin zum überreichen Beschenktwerden mit zwei Familien widerfahren ist, genau so kommen musste. Dieser Gedanke erfüllt mich mit tiefer Demut.“ Das Buch ist hier zu Ende, doch das Leben von Saroo und die Erinnerung daran ist noch lange nicht zu Ende. Viel Glück weiterhin will man dem jungen Mann wünschen, und bleib, so wie du bist. 

 

Kommentare

evafl kommentierte am 24. Oktober 2014 um 07:51

Klingt sehr lesenswert. :) 

Leschen kommentierte am 12. November 2014 um 02:55

ICH GEBE 5 Sterne