Rezension

Das Zeitlose ist etwas angestaubt

Orlando - Virginia Woolf

Orlando
von Virginia Woolf

Bewertet mit 2.5 Sternen

Ich habe keine Angst vor Virginia Woolf. Aber mit ihrem Namen verbinden sich ein paar kraftvolle Assoziationen. Wahrscheinlich lag es an meinen mangelnden Vorkenntnissen, meinen seltsamen Vorurteilen, dass mich „Orlando“ enttäuscht hat.

Woolf erzählt die Geschichte des Landadligen Orlando im elisabethanischen England, der schwer in sich und die Natur verliebt ist, sich für die Frauen - vor allem die stürmische Sasha - interessiert und für die Literatur, ja sogar selbst poetische Ergüsse fabriziert; derer schämt er sich später, als ein bösartiger Kritiker sie zu Gesicht bekommt, weshalb Orlando alle vernichtet bis auf den ‚Eichenbaum‘. Erst von der Welt enttäuscht, dann wider ihr zugewandt sogar Gesandter am Hof in Istanbul wird. Die blutige Revolte in der Stadt verschläft Orlando in einem rätselhaften siebentägigen Schlaf, aus dem er als Frau erwacht. Orlando reist wieder heimwärts und erlebt einige Abenteuer - bei den Zigeunern und auf See -, in denen  die Ambivalenz schon aufscheint, dass Orlando nun in einem Frauenkörper steckt, aber ein Vorleben als Mann besitzt. Daheim angekommen, muss sie um vor Gericht ihr Erbe kämpfen, da sie für tot erklärt war und für einen Mann gehalten worden ist, es gelingt ihr aber, den Sitz ihrer Ahnen wieder zurückzuerhalten. Orlando sucht die Nähe von Literaten ihrer Zeit, spricht viel über Literatur und was sie bedeutet. Und immer wieder erprobt sie sich als Frau in einer Männerwelt oder als Frau gegenüber Frauen. Besonders intensiv erlebt sie die Beziehung mit ihrem späteren gatten, dem Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, in dem sie dessen weiblichen Seiten erkennt. Am Ende des Romans ist Orlando eine weitestgehend ungebundene, selbstbewusste Frau, die sie immer gewesen ist, die mit ihrem gereiften ‚Eichenbaum‘ immerhin zu den ernsthaften Literaturschaffenden gezählt wird und die - mit der Zeit gehend - die Fahrt mit ihrem Automobil schätzt.

Und überhaupt: die Zeit. Der Roman spannt sich vom elisabethanischen England bis in das Jahr 1928, in dem „Orlando“ erschienen ist, ohne im wesentlichen das Älterwerden Orlandos zu thematisieren, Auch andere Figuren - etwa der Kritiker Greene - leben die Jahrhunderte, was weder erklärt noch hinterfragt wird. Die Jahre ist aufgehoben, es gilt nur ein Vorher und Nachher, denn Woolf benötigt die Jahrhunderte, um Orlando in ihnen die beiden großen Anliegen spiegeln zu lassen, um die es geht: um die Stellung der Frau (in der Gesellschaft und zu sich) und die Literatur.

Wie Orlando als Frau denkt, sich vom Mannsein in das Frausein bewegt (und wieder zurück, zumindest gedanklich); wie sie Unterschiede entdeckt, Grenzen berührt und überschreitet, Geschlechterspezifisches erkennt, benennt und übersteigt - das sind die starken Momente dieses ansonsten leider arg in die Jahre gekommenen Romans. Hier verbirgt sich der zeitlose Wert „Orlando“ hinter einer Sprache, die altertümlich wirkt (meine deutsche Ausgabe ist von 1964) und heutige Leser wohl nicht mehr erreicht. Die Gedanken über die Literatur hingegen haben mit ihren Namen Staub angesetzt, auch wenn bis heute gilt, was am Schreiben das Schwierigste ist: „Das Leben? Die Literatur? Eins ins andere zu verwandeln?“ (S. 253)

Auf mich wirkte „Orlando“ nicht mehr wie in Literatur verwandeltes Leben, weshalb ich, der ich mit großen Erwartungen in die Lektüre gestartet war, in folgendem Satz auf der letzten Seite die Figur Orlando selbst widererkannte: „Alles war erleuchtet, wie für die Ankunft einer toten Königin.“ (S. 292)