Rezension

Delphine de Vigans Bücher sind wahrhaftig.

Loyalitäten - Delphine de Vigan

Loyalitäten
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 5 Sternen

Sucht und Sehnsucht. Loyalitäten. Das sind die unsichtbaren Verbindungen, die uns mit den anderen – den Toten wie den Lebenden – verbinden, leise gemachte Versprechungen, deren Auswirkungen wir nicht kennen, still gehaltene Treue, das sind Verträge, die wir zuallermeist mit uns selbst geschlossen haben, Befehle, die wir hingenommen, aber nie gehört haben, und in den Nischen unserer Erinnerungen nistende Schulden. Das sind die Gesetze der Kindheit, die in unseren Körpern schlummern, die Werte, in deren Namen wir uns aufrecht halten, die Fundamente, die es uns ermöglichen, Widerstand zu leisten, unlesbare Grundsätze, die an uns nagen und uns einschließen. Unsere Flügel und unsere Fesseln. Das sind die Sprungbretter, auf denen sich unsere Kräfte entfalten, und die Gruben, in denen wir unsere Träume begraben.  
Wenn Eltern mit sich selbst beschäftigt sind, können ihre Teenager- Kinder in heftige Probleme hineingeraten. Theos Eltern sind geschieden und merken beide nicht, wie sehr der Junge darunter leidet, Mutter und Vater seelisch versorgen zu müssen. Der 12-jährige beginnt heimlich Alkohol zu trinken, sein Freund Mathis beobachtet die Sucht mit großer Sorge. Théo ist ein stiller, aber guter Schüler. Dennoch glaubt seine Lehrerin Hélène besorgniserregende Veränderungen an ihm festzustellen. Doch keiner will das hören. Seine Eltern sind geschieden und mit sich selbst beschäftigt. Der Junge funktioniert und kümmert sich um die unglückliche Mutter und den vereinsamten Vater. In ihren Augen ist also so weit alles gut. Doch Théo trinkt heimlich, und nur sein Freund Mathis weiß davon. Der Alkohol wärmt und schützt ihn vor der Welt. Eines Tages wird ihn der Alkohol ganz aufsaugen, das weiß Théo. Doch wer sollte ihm helfen? Hélène, seine Lehrerin, würde es tun, doch wie soll das gehen, ohne dass er die Eltern verrät? Mathis beobachtet das alles voller Angst. Zu gerne würde er sich seiner Mutter anvertrauen, aber Théo ist sein einziger Freund. Und einen Freund verrät man nicht. Außerdem würde er damit auch seinem großen Bruder in den Rücken fallen, denn der besorgt den Alkohol für die Minderjährigen. Und er ist es auch, der das gefährliche Spiel in dem schneebedeckten Park vorschlägt, bei dem Théo bewusst den eigenen Tod in Kauf nimmt. Beim lesen bekommt man Gänsehaut, denn so nah ist man als Gesunder dieser Krankheit selten gekommen. Es gelingt Delphine de Vigan, auch Leser in ihren Bann zu ziehen, die sich vorher noch nie mit dem Thema Alkoholismus bei Kindern und Jugendlichen auseinandergesetzt haben. Gewohnt brillant erzählt die Autorin in diesem einfühlsamen Roman die Geschichte des 12-jährigen Théo und erweitert mit dem Satz „Wie konnte es nur so weit kommen", den Horizont, in diesem Fall ganz besonders. Berührend bis zur letzten Seite. Sie trifft mit diesem grossartigen Roman absolut den Zahn der Zeit. Loyalitäten ist aus meiner Sicht ein wichtiges Buch, das zum Denken und Umdenken anregt. Das bei einem solch schwierigen Thema zu schaffen, hat durchaus Respekt verdient. Am Rande der Wahrheit findet Delphine de Vigan ihre Geschichten. Realität und Fake, Autobiografie und Fiktion. Der Roman rüttelt wach und bietet einen bewegenden Ausflug in ein krankes, aber heilbares Leben. Und er gibt Kraft! Eine ganz außergewöhnliche und wertvolle Geschichte, die unter die Haut geht und nicht nur Betroffenen Mut zum Leben vermittelt. Wow. Sehr intensiv.