Rezension

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Den Knochen hingeworfen

Die blaue Stunde -

Die blaue Stunde
von Paula Hawkins

Ein gelungenes Arrangement a Geheimnissen, ein sehr gelungenes Personal, aber mit deutlichen Längen und einem vorhersehbaren Ende

Hand aufs Herz: „Girl on the Train“ war Paula Hawkins‘ bestes Buch. Es war ihr erstes, weshalb alle folgenden sich immer an diesem famosen Werk messen lassen müssen – und enttäuschen. Das ist fast schon tragisch für Hawkins, denn ihre Bücher sind gut. Nur nicht so gut wie ihr Erstling.

Was fehlt der „Blauen Stunde“? Gar nichts, das Buch hat zu viel: zu viel Kunstgeschwätz, zu viel freie Zeit auf einer einsamen Insel, zu viel Landschaft und Wetter und zu viel unverbundene Geheimnisse.

Was hat das Buch? Ein gelungenes handelndes Personal: James Becker, die Kunstsachverständige eben der Stiftung, die alle Kunstwerke der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman geerbt hat, dieser Becker ist sympathisch und vielschichtig. Er ist der „Ermittler“ innerhalb der Geschichte und deckt die Zusammenhänge auch für die Leser auf. Dann sind in der Stifutng Sebastian, sein Biest von Mutter und Helena, seine Ex-Verlobte, die heute mit Becker verheiratet ist. Eine Ménage à quatre, die es in sich hat und scheinbar gar nichts mit Vanessa Chapman zu tun hat. Und schließlich Grace auf Vanessa Insel. Ihre Pflegerin, Ärztin, Vertraute, Freundin, Nicht-Freundin und … nicht ihre Erbin. Mit Grace betritt die interessanteste Figur des Romans die Bühne, in der sich alles bündelt. Sie ist der Autorin so gut gelungen, dass sie mir zu unsympathisch wurde, um ihre folgen zu wollen. Im Laufe des Romans bekommt die Insel noch eine eigene Rolle zugewiesen als ein Ort, an dem sich Schicksale kreuzen und Wind und Wogen Einfluss auf das Geschick der Personen nimmt.

Im Roman hat Chapman unterschiedliche Zeitebenen miteinander verbunden und sie zu einem mehrfach verschlungenen Pfad durch die Handlung komponiert. Das ist auf der einen Seite eine bequeme Erzählpraxis, weil auf diese Weise in ganz vielen Erzählmomenten innegehalten und Spannung aufgebaut werden kann. Es funktioniert aber nur, wenn es auch gut gemacht ist, und hierin liegt die grö0te Schwäche des Romans: Die Tagebucheinträge und Briefe Vanessas, die als Intarsien in den Text gepflegt wurden, sind zum Teil gähnend langweilig. Zu viel muss zunächst über den Kunstbetrieb, über Kunstrichtungen, über längst Vergangenes nachgetragen werden, damit man als Leser ausreichend im Bild ist, um das Künstlersetting zu verstehen, dass es mir deutlich zu viel wurde. Mein Interesse an Gemälden oder Skulpturen aus Strandgut ist in den vielen Absätzen des Romans keineswegs gewachsen. Zwar sind elementare Informationen in diesen Texten verborgen, aber echten Leseflow konnte ich hier nicht erleben.

Was hat mir am besten gefallen? Der Anfang: Ein menschlicher Knochen, eine Rippe, wird in einem von Vanessas Kunstwerken entdeckt. Ist das der sterbliche Überrest ihres verschollenen Gatten? Spannend und ein wirklich cooler Einstieg ins Geschehen. Umso mehr hat es mich genervt, dass dieser Knochen, den uns die Autorin zu Anfang hingeworfen hat, bis fast zum Schluss gar keine Rolle mehr spielt. War vielleicht Absicht, um die Leseerwartung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Immerhin gelingt es Hawkins, alle Stränge zum Ende hin wieder in die Hand zu bekommen und zu einem sehr vorhersehbaren Ende zusammenzudrehen, das die Lektüre mit einem positiven Fazit beendet. Hier spielt dann der Knochen doch noch eine Rolle, nämlich die der unerwarteten Auflösung.

Alles in allem also ein recht gelungenes Werk, das trotz seiner Längen durch die Figuren und das Plotarrangement überzeugt.