Rezension

Denn es will Abend werden

Abendrot
von Kent Haruf

Bewertet mit 5 Sternen

Holt, Colorado. Ein kleine fiktive Stadt, die es so oder so ähnlich geben kann. Dort leben die McPheron Brüder, Harold und Raymond, zwei alte Männer, deren Ziehtochter gerade wegzieht, um aufs College zu gehen. Das Ehepaar Wallace lebt mit zwei Kindern von der Sozialhilfe in einem Trailer. Der elfjährige DJ kümmert sich um seinen kranken Großvater, der ihn alleine aufgezogen hat. Diese Menschen und noch einige andere mehr leben dort, in Holt. Ihre Wege kreuzen einander auf die eine oder andere Weise.

Wer schon „Lied der Weite“ von Kent Haruf gelesen hat, wird einige der Bewohner von Holt wiedererkennen. „Abendrot“ ist ein weiterer Roman aus dem Plainsong Zyklus. Sowie alle Bücher des 2014 verstorbenen amerikanischen Autors wirkt Abendrot ein bisschen wie aus der Zeit gefallen.

Kent Haruf war ein erzählerisches Ausnahmetalent. Denn er erzählt von harter Arbeit, einer einfachen Lebensweise, von Entbehrung und Einsamkeit, dies aber ohne Pathos und süßlichen Kitsch, und schafft es trotzdem zu berühren. Die alltäglichen Dinge sind es, das „make a living“, von denen Kent Haruf berichtet, beobachtend, wertfrei, unprätentiös.

Kent Haruf erzählt auch von Menschen am Rande der Gesellschaft, Bildungsverlieren, Trinkern, Kranken. Von einer Familie, in der es nicht reicht, die Kinder zu lieben, wenn es an allem anderen mangelt. Haruf erzählt vom Abschiednehmen und neuen Begegnungen. Er erzählt vom Verlust eines geliebten Menschen, von der Sehnsucht nach Zuwendung und dem Schöpfen von neuem Vertrauen. Die Menschen in Holt nehmen das Leben, wie es kommt, so wie nach dem Abendrot die Nacht und dann ein neuer Tag kommt und wieder ein Abend.

Kent Haruf nach Holt, Colorado zu reisen ist ein bisschen wie Heimkommen zur Verwandtschaft. Nicht alle Mitglieder mag man, aber man liebt sie trotzdem.