Rezension

Der Attentäter und sein Opfer

Der Fall Kurilow - Irène Némirovsky

Der Fall Kurilow
von Irène Némirovsky

Bewertet mit 4 Sternen

Im zaristischen Petersburg der Jahrhundertwende soll der Revolutionär und Anarchist Léon M. den Erziehungsminister des Zaren ermorden – den zynischen, schwerkranken, dekadenten Kurilow. Als Hausarzt verschafft Léon sich Zugang zu seinem Opfer. Doch je näher Léon Kurilow kommt, umso mehr gewinnt der Minister menschliche Züge, und Léon zweifelt am Sinn seiner Mission. Ein ebenso spannendes wie sensibel und atmosphärisch dicht gezeichnetes Psychogramm von Opfer und Täter.

Dem ersten Kapitel, in dem der Protagonist quasi durch ein zufälliges Treffen mit einem Mann, der ihn zu kennen glaubt, vorgestellt wird, schließt sich die weitere Handlung als autobiographischer Bericht aus dem Nachlass an, erzählt in wenigen Blitzlichtern aus der Kindheit, in der Léon zum Revolutionär „erzogen“ wurde: Er kennt nichts anderes, denn der Vater, früh in einem sibirischen Gefängnis gestorben, und die Mutter, die mit dem Kind in die Schweiz zog, betätigten sich in revolutionären Gruppen. 1903 wird Léon auserwählt und nach Russland geschickt, um sich Kurilow, einem Minister des Zaren, inkognito zu nähern und ihn zu liquidieren. Dass das Attentat gelingt und Léon gefasst und zu Zwangsarbeit verurteilt wird, erfährt der Leser bereits durch die zufällige Begegnung im ersten Kapitel.

Diesmal hat Némirovsky Russland um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Tableau ihrer Geschichte gewählt. Wieder tritt sie den Beweis an, wie individuelles Leben und die zwischenmenschlichen Beziehungen von der historischen Epoche geprägt werden. Der Aufruhr in Russland, die Wut der Bevölkerung auf das Zarenregime, die Diktatur, der Opportunismus und die unmenschliche Gewalt und die Massaker auf beiden Seiten: Niemand ist unschuldig, auch Léon nicht.

Kurilows Spitzname „Pottwal“ umschreibt sowohl seine äußere Erscheinung als auch sein Verhalten. Er leidet an Krebs, an seiner Angst, beim Zar in Ungnade zu fallen, und daran, dass seine zweite Frau – vormals seine Mätresse – in den besseren Kreisen nicht anerkannt wird. Léon hat zunächst leichtes Spiel, Kurilows Vertrauen zu gewinnen.

Eine Logik ist nicht erkennbar. Denn Léon hätte als Arzt viele Möglichkeiten, Kurilow zu töten. Und das Fortschreiten der Krankheit und die Machtenthebung des Ministers machen einen Mord eigentlich sinnlos. Aber die revolutionären Zellen und Léons Verbindungsleute fragen nicht nach dem Sinn. Es geht um Getöse, Krach und Chaos, um die Demonstration von Stärke, Einfluss und Macht.

Ein Buch, das lange nachhallt (wie fast alle Bücher der Autorin).