Rezension

Der Autor hat mich emotional nicht abgeholt

Was Nina wusste - David Grossman

Was Nina wusste
von David Grossman

Bewertet mit 3 Sternen

Zu Veras 90. Geburtstag trifft sich die ganze Familie. Auch ihre Tochter Nina ist extra von Skandinavien in den Kibbuz gereist. Seit Jahrzehnten kapselt sie sich schon von der Familie ab. Nach der Feier beschließen Nina, Vera, die Enkeltochter Gili und Rafi, der Gilis Vater, Ninas Exmann und Veras Stiefsohn in einer Person ist, eine Reise in die Vergangenheit anzutreten und sich nach Kroatien zu begeben. Hier wollen sie einen Film drehen, deren Mittelpunkt die Erinnerungen von Vera bilden, denn sie und ihre Tochter Nina haben hier ursprünglich gelebt…

Die Einführung der einzelnen Figuren und die Darlegung der Beziehungen zueinander habe ich von der Atmosphäre her als sehr niederdrückend und belastend empfunden. David Grossman zeigt uns, wie dysfunktional die Familie ist. Unbearbeitete Konflikte der einen Generation werden an die nächste weitergegeben, so dass hier die alten Muster weitergelebt werden müssen.

Als die vier Figuren – Oma, Mutter, Tochter und Rafi – zu ihrer Reise aufbrechen, wirkt die Grundstimmung des Romans auf mich gelöster und fröhlicher. Die Stimmung wirkt als Hintergrund, denn bei den Personen sind die alten Konflikte nach wie vor nicht gelöst, sondern können jetzt im Gegensatz zu vorher nicht mehr umgangen werden, da die Personen sich nicht mehr aus dem Weg gehen können. Die Szenen erinnern teilweise an einen Road Movie und standen mir bildlich vor Augen.

In „Was Nina wusste“ überrascht der Autor immer wieder mit gekonnten Sprachspielereien, die mir als Leserin wiederholt einen Aha-Effekt beschert haben. Ich genieße es, wenn Autoren mich mit ihrer Freude an der Sprache umschmeicheln.

Doch so schön manche Formulierungen waren, insgesamt habe ich die Sprache eher als distanziert und sachlich empfunden. Die Personen sind für mich nicht greifbar geworden. Ich habe keinen empathischen Zugang zu ihnen gefunden. Interessant war für mich vor allem Nina. Sie ist als schwierige, unangepasste Person angelegt, die gerne Tabus bricht. Dadurch wurde mein Interesse an ihr und ihrer Vergangenheit geweckt. Was ist mit ihr passiert? Was hat sie zu der Person geformt, die sie nun ist? Ihre Mutter Vera dagegen habe ich meistens als sehr unauthentisch und aufgesetzt erlebt und bin mit ihr gar nicht warm geworden. Gili, aus deren Perspektive der Großteil der Geschichte erzählt wird, ist mir zu blass geblieben, um eine klare Gestalt anzunehmen.

Auch die Auflösung am Ende des Buches hat mich enttäuscht. Über den Großteil des Buches wurde eine sich immer weiter steigende Erwartung in mir aufgebaut, die am Ende einen Moment von „Aber das wussten wir doch von Anfang an“ bei mir ausgelöst hat. Zum Schluss haben mich weder die Figuren noch die Geschichte wirklich erreichen und überzeugen können. Zusammenfassend reicht meiner Meinung nach die Sprachästhetik des Autors nicht aus, um die erzählerischen Schwächen in der Personenzeichnung zu kompensieren.