Rezension

Der Ball der Verrückten

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Bewertet mit 4 Sternen

„Ich bezweifle, dass es außerhalb dieser Mauern Freiheit gibt. Ich bin den größten Teil meines Lebens draußen gewesen und habe mich nicht frei gefühlt. Die Sehnsucht muss sich woanders erfüllen. Darauf zu warten, dass man befreit wird, ist ein vergebliches und unerträgliches Gefühl.“

Paris, 1885: Schauplatz des Geschehens ist die Salpêtrière, Europas wohl bekannteste Nervenheilanstalt für geisteskranke Frauen. Für das von Zerstreuung und Sensation übersättigte Pariser Publikum stellt der alljährliche Ball an Mittfasten - von der Pariser Bourgeoisie schlicht „Ball der Verrückten“ genannt - eine willkommene Abwechslung dar, um der eigenen Schaulust zu frönen. Die Insassinnen flößen Angst ein und üben gleichzeitig Faszination aus, sie verursachen Unbehagen und regen gleichzeitig die Phantasie an. Für die Patientinnen selbst stellt der Ball den Höhepunkt des Jahres dar. An diesem Tag weicht jegliches Unwohlsein der allumfassenden Festtagsstimmung. Ein jede darf sich an diesem Tag ihren Träumen und Sehnsüchten hingeben. Für zwei von ihnen, Eugénie und Louise, sollen die Träume von Freiheit und Selbstbestimmung eine konkrete Realisierung finden. Doch damit Eugénie in die Freiheit gehen darf, muss eine andere ihren Platz einnehmen.

Vicoria Mas nimmt sich in ihrem Erstlingswerk einem Thema an, das eher zu den blinden Flecken von Paris zu zählen ist. Dem deutschsprachigen Leser mag die Salpêtrière aus „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ - Rilkes einzigem Roman von 1910, in dem er seine Parisaufenthalte von 1902/03 verarbeitet - ein Begriff sein. Weitere fiktive Werke, die sich diesem Thema widmen, sind rar gesät. Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, ist ein Ort der Weltoffenheit. Es ist die Stadt, die die Moderne erfand. Sie steckt voller Schwung, Eleganz und Zauber. Als kulturelles, wirtschaftliches und politisches Zentrum Europas bietet sie eine unausschöpfliche Quelle an schillernden und funkelnden Geschichten.

Doch Victoria Mas entscheidet sich für die Kehrseite dieser blendenden Fassade. Sie entführt uns mit Entschlossenheit in die dunklen Winkel dieses funkelnden Bauwerks. Sie liefert uns einen historischen Abriss über die Geschichte der Salpêtrière und lässt uns die Zustände in dieser Anstalt um 1885 näher betrachten. „Eine Mülldeponie für all jene, die die öffentliche Ordnung gefährdeten. Eine Anstalt für Frauen, deren Empfindungen nicht den Erwartungen entsprachen. Ein Gefängnis für diejenigen, die sich einer eigenen Meinung schuldig gemacht hatten.“ Drei verschiedene Frauenfiguren projiziert die Autorin vor unser inneres Auge, um uns in eine vom Patriarchat geprägte Gesellschaftsordnung zu entführen. Sie lässt uns an drei Lebensschicksalen teilhaben, die von Tragik gezeichnet sind, die es ohne den männlichen Übergriff so nicht gegeben hätte. Obwohl Victoria Mas dies auf einfühlsame und berührende Weise bewerkstelligt, ist sie gleichzeitig um eine gewisse emotionale Distanz bemüht. Die Leserin soll mit-fühlen, aber dabei das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren: Frauen sind stark, so wie sie sind. Nicht umsonst wurden den Frauen von Männern intellektuelle und körperliche (das Korsett!) Fesseln angelegt: „Dass die Männer ihnen solche Grenzen aufgezwungen hatten, legte den Gedanken nahe, dass sie die Frauen nicht verachteten, sondern vielmehr fürchteten.“ Statt sich gegenseitig zu untergraben, sollten Frauen füreinander einstehen und füreinander kämpfen - so meine Interpretation von Victoria Mas' Roman „Die Tanzenden“.