Der Beginn der modernen Rechtsmedizin
Bewertet mit 5 Sternen
Der Norweger Tore Renberg hat mit „Die Lungenschwimmprobe“ einen historischen Roman über Rechtsmedizin vorgelegt, dem ein wahrer Fall zugrunde liegt. In seiner Nachschrift benennt er zwei Hauptquellen, die es ihm ermöglicht haben, den Fall Anna Voigt in den Mittelpunkt des Romans zu stellen. Es sind dies Christian Thomasius, seines Zeichens privat praktizierender Rechtsanwalt zu Leipzig, der in seinen 1720 erschienenen „Erinnerungen über allerhand auserlesene Juristische Händel“ über Anna Voigts Fall berichtet und Johannes Schreyer und seiner 1690 veröffentlichten Schrift über die Lungenschwimmprobe. Der Autor hat sich auch anderer Schriften bedient, die er nicht unerwähnt lässt. Auch lässt er so manch historische Figur auferstehen, neben den bereits benannten Personen ist es unter anderem auch der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze, dem wir hier umständehalber immer wieder begegnen. Und – wie es ein Roman so an sich hat, ist zuweilen auch Fiktion im Spiel.
Wir sind in Sachsen im Jahre 1681. Die 15jährige Anna wird beschuldigt, ihr Neugeborenes getötet zu haben. Amtmann Abraham Walther geht von einem vorsätzlichen Tötungsdelikt aus, der Mediziner und Wissenschaftler Johannes Schreyer wird gemäß amtlicher Anordnung zur Inspektion einer Leiche gerufen. „Wir haben es hier mit einer dieser ewigen Kindsmörderinnen zu tun“ meint der Amtmann zu wissen. Der kleine Körper weist Stichwunden auf, Blut jedoch ist nicht zu sehen. Schreyer ist skeptisch, der wendet zur Sicherheit eine neue Methode an - die Lungenschwimmprobe. Dabei wird die Schwimmfähigkeit der Lunge des Neugeborenen im Wasser überprüft. Sinkt diese, hat es nie geatmet, es war also eine Totgeburt. Schwimmt sie oben, so ist bereits Luft in den Lungenbläschen, was auf ein Atmen nach der Geburt schließen lässt. Schreyers Verfahrensweise begründet den Beginn der modernen Rechtsmedizin. Zu Annas Zeiten war die Lungenschwimmprobe Neuland, bleibt die Frage, ob dieser Umstand die minderjährige Anna Voigt gerettet hat.
Da dieser Roman im 17. Jahrhundert angesiedelt ist, war die Sprache für heutige Ohren doch etwas sperrig. Sie wurde unserem Empfinden angepasst, mit eingeflossen sind zeittypische Gepflogenheiten, Redewendungen und ähnliches. Der Roman ist so viel mehr als „nur“ der Fall Anna Voigt, die wir über quälende sechs Jahre begleiten und dabei tief in diese Zeit eintauchen.
Renberg lässt historischen Figuren lebendig werden, er blickt in die Gesellschaft, man spürt die Diskrepanz zwischen den einfachen Leuten und denen da oben, lässt religiösen Fanatismus ebenso mit einfließen wie unter vielem anderen auch Foltermethoden und erwähnt dabei die Constitutio Criminalis Carolina, kurz Carolina, die als erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch gilt und auf Karl V zurückgeht. Eine Hinrichtung war anno dazumal ein gar schauriges Ereignis, das die Menschen anzog. Tore Renberg lässt seine Leserschaft nicht nur an diesem schauderhaften Akt teilhaben, er benennt auch die zuvor angewandten Foltermethoden, die dazu angetan waren, den Angeklagten zum Reden zu bringen. Danach hat gar manch Unschuldiger lieber gestanden und dem nahen Tod ins Auge geblickt.
Unterteilt ist dieser historische Roman in sechs Bücher, die den Kapiteln vorangestellt einen ersten Eindruck über den Inhalt vermitteln. Am Ende des Buches dann findet man den QR-Code mit einem ausführlichen Register der historischen Personen, historischen Karten und Illustrationen sowie einem Literatur- und Quellenverzeichnis. Das umfangreiche, bestens recherchierte Werk liest sich trotz der gerade anfangs ein wenig gewöhnungsbedürftigen Sprache bald relativ flüssig. Um den Fall Anna Voigt entspinnt sich ein facettenreiches Bild über die Anfänge der modernen Rechtsmedizin. Ein lesenswertes Buch, für das man sich jedoch die dafür notwendige Zeit nehmen sollte.