Rezension

Der Fall Gildas

Die Zeuginnen - Margaret Atwood

Die Zeuginnen
von Margaret Atwood

Bewertet mit 4 Sternen

35 Jahre nach dem „Report der Magd“ erscheint eine Fortsetzung dieses Klassikers,der in den letzten Jahren, nicht zuletzt aufgrund der gleichnamigen Serie, einen absolut verdienten Hype erfahren hat. „Die Zeuginnen“ knüpft an die Geschehnisse etwa 16 Jahre später an. Während der Report sich auf die Erzählperspektive von Desfred beschränkte, die im totalitären Regime Gileads zum Dienst als „Magd“gezwungen wurde, lässt das neue Buch drei andere Stimmen zu Wort kommen: Daisy, die in Kanada als Tochter eines Paares aufwächst, das in der Widerstandsbewegung Mayday aktiv ist und dafür mit dem Tod bezahlt. Agnes, die als Tochter eines Kommandanten großgezogen wird und einer Zwangsverheiratung nur entgeht, indem sie sich zur Tante ausbilden lässt. Tante Lydia, die wir schon aus dem Report kennen, wo sie die grausame Umerziehung fruchtbarer Frauen zu Mägden anleitet, welche in rituellen Vergewaltigungen geschwängert werden sollen und im Erfolgsfall ihr Kind gleich wieder hergeben müssen. Kurz, das System behandelt die Mägde im Wesentlichen so, wie wir Kühe behandeln. Durch diese neuen Perspektiven bekommt der Leser Einblick in weitere Bereiche von Gilead. Insbesondere die Kaste der Tanten und ihre Position im System ist dabei sehr spannend. Sie dürfen zwar nicht heiraten, dafür aber lesen und schreiben, und ziehen oftmals hinter den Kulissen die Fäden. Es sind also Frauen mit etwas Macht in einem System, dessen Prämisse die Unterdrückung der Frauen ist - diese Macht bekommen sie aber nur unter der Bedingung, sich aktiv an der Unterdrückung von Frauen zu beteiligen. Insgesamt wird hier jedoch, insbesondere hinsichtlich der Figur Lydias, ein sehr viel positiveren Bild gezeichnet. Lydia selbst vollzieht einen Wandel von der grausamen Aufseherin zum Racheengel, den ich psychologisch nicht ganz überzeugend fand. „Die Zeuginnen“ ist ein spannender Pageturner, der gekonnt verschiedene Perspektiven zu einem immer rasanteren Geschehen verwebt. „Der Report der Magd“ hingegen ist ein langsames Buch, da es sich auf Desfreds Perspektive voll einlässt, und deren Leben eben oftmals durch große Monotonie und fehlende Handlungsmöglichkeiten geprägt ist. Dadurch war der Report aber auch besonders eindringlich. Im Vergleich ist die Fortsetzung zwar gelungen und wird sicherlich ein größeres Publikum ansprechen, ist aber eben auch sehr viel glatter, gefälliger, versöhnlicher und erreicht meines Erachtens nicht ganz die literarische Qualität und erzählerische Konsequenz des Vorgängers.