Rezension

Der große Bruder

Der große Bruder
von Esther Gerritsen

Bewertet mit 4 Sternen

Kurz bevor sie zu einem wichtigen Meeting muss, erhält Olivia einen verstörenden Anruf von ihrem Bruder Marcus, mit dem sie seit über einem Jahr nicht gesprochen hat. Er sei auf dem Weg in den OP und man wisse nicht, ob man sein Bein retten könne. Seit Jahren schon ist er Diabetiker und hat es nie so genau genommen mit dem, was die Ärzte empfohlen haben. Olivia kann sich nur noch kurz zusammenreißen, bevor sie ihren Arbeitsplatz verlässt und zum Krankenhaus eilt. Ihren Bruder erkennt sie kaum mehr wieder und die Amputation war tatsächlich nicht vermeidbar. Schuldgefühle überkommen sie und so bietet sie Marcus an, bei ihr und ihrer Familie vorläufig unterzukommen, nicht ahnend, dass dies ihre Balance völlig zum Wanken bringen und sie die Kontrolle über ihr Leben verlieren wird.

 

Esther Gerritsens Roman, aufgrund der Länge wohl eher Novelle, zeichnet nach, wie schnell das fragile Gebilde Alltag zum Wanken und Einstürzen kommen kann. Dank der Arbeit und den zahlreichen Aufgaben rund um die Familie kann die Protagonistin lange Zeit die Augen vor den tatsächlichen Problemen verschließen und immer weitermachen. Keine Zeit für die Beziehung und ihren Mann, keine Zeit für die Frage, was sie selbst eigentlich vom Leben erwartet, keine Zeit für ihren Bruder und dessen Sorgen. Erst durch die Durchbrechung des Alltags mit dem Einzug von Marcus werden all die verdeckten Konflikte zum Vorschein gebracht.

 

Besonders gelungen ist der Autorin zu zeigen, wie ein Mensch versucht, den Schein zu erhalten, hinter der äußerlich sichtbaren Fassade funktioniert und doch schon spürt, wie langsam alles einreißt und vom Zusammenbruch bedroht ist. Auch die säuberliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben wird zwangsweise aufgehoben und plötzlich drohen die beiden Selbstbilder miteinander zu kollidieren. Authentisch wirken ihre Figuren allesamt, der nachlässige Bruder ebenso wie der Ehemann, der seine Sorgen und Nöte für sich behält, bis die Katastrophe sich nicht mehr aufhalten lässt. Allen voran jedoch Olivia, die zwischen den Erwartungen der Außenwelt und ihrer Gefühlswelt ins Chaos gerät und sich plötzlich mit essentiellen Fragen konfrontiert sieht.

 

Ein kleiner Denkanstoss, der einlädt, einen Blick auf das eigene Lebenskonstrukt zu werfen.