Rezension

Der gute Mensch von Holt

Kostbare Tage
von Kent Haruf

Bewertet mit 5 Sternen

Holt, Colorado: Dad Lewis liegt im Sterben. Unheilbar an Krebs erkrankt bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Seine Frau Mary kümmert sich in seinen letzten Tagen rührend um ihn. Auch seine Tochter Lorraine reist an, um der Mutter beizustehen und vom Vater Abschied zu nehmen. Nach und nach kommen Nachbarn, Freunde, seine Angestellten vorbei, um ein letztes Mal nach Dad zu sehen. Auch Reverend Lyle, der neue Gemeindepfarrer stattet ihm einen Besuch ab. Lyle hat selbst mit eigenen Problemen zu kämpfen, seine Familie droht auseinanderzubrechen, seine Ansichten werden nicht von jedem gut geheißen. Währenddessen lebt sich die achtjährige Alice in der Gemeinschaft ein. Das Mädchen wohnt seit dem Tod ihrer Mutter bei ihrer Großmutter Bertha May. Das Mädchen wird von Lorraine und den Johnson Frauen, die verwitwete Willa und ihre Tochter Alene, ins Herz geschlossen.

Schon zum vierten Mal entführt Kent Haruf den werten Leser nach Holt, Colorado. Es sind „Kostbare Tage“ von denen der 2014 verstorbene amerikanische Autor erzählt. Holt ist eine fiktive Kleinstadt, nicht unbedingt ein Wohlfühlort, kein Ort, an den es einen hinzieht. Dort leben bodenständige Menschen mit ganz alltäglichen Sorgen, Wünschen, Träumen, Freuden und Kummer. In dem Kent Haruf die Menschen genau beobachtet, ihnen größte Achtsamkeit und Respekt entgegenbringt, lässt er den Leser eine tiefgehende Bindung zu seinem Personal eingehen.

„Im Schatten der Bäume blieb er vor den Häusern stehen, warf einen Blick durch die Fenster, die in den Sommernächten geöffnet waren, und beobachtete die die Leute. Die kleinen Dramen, die tägliche Routine.“

Genauso wie Reverend Lyle durch die Straßen von Holt geht, in die Häuser der Menschen schaut, so schaut Kent mit fotografischem Realismus hin.

Mit den Geschichten aus Holt spiegelt er wohl einen guten Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung in ländlichen Kleinstädten. Es gibt dort gute Menschen und weniger gute. Doch noch nie bin ich einem von Kent Harufs Protagonisten so ambivalent gegenüber gestanden wie Dad Lewis.

Dad Lewis ist für mich nicht „der gute Mensch von Holt“, wie es zunächst scheinen mag. Dad hat sich ein gutes Leben in Holt aufgebaut. Er hat einen kleinen gut gehenden Eisenwarenladen ein gutes Auskommen. Seine Frau Mary ist ihm, anders kann man es nicht ausdrücken, treu ergeben. Seine Tochter Lorraine liebt und achtet ihn. Doch es gibt dunkle Flecken in Dads Leben. Es gibt Entscheidungen, die er getroffen hat und die gar nicht mal so sehr sein Leben beeinträchtigt haben als das anderer Menschen.

Warum heißen Sie so? Das fragt die kleine Alice, als sie Dad kennenlernt.
Wie denn?
Dad.
Weil ich eine Tochter habe, wie du. Als sie zur Welt kam, haben die Leute angefangen mich so zu nennen.

Doch Dad ist ein Vater, der auch einen Sohn hat. Einen Sohn, den er nie erwähnt, von dem er nie erzählt. Der homosexuelle Frank verließ die Familie mit 19, ohne Schulabschluss. Einen Sohn, den Dad sogar in seinen Todesfantasien nur als Versager sehen kann.

Auch in einem anderen Fall plagten ihn Schuldgefühle, die er mit finanzieller Zuwendung bereinigen konnte. Ob Dad nur aus schlechtem Gewissen, Anstand, moralischem Imperativ oder reiner Nächstenliebe gehandelt hat, beliebt der Interpretation des Lesers vorbehalten.

Was hätte ich anders tun können, ist wohl eine Frage, die sich viele Sterbende stellen. Es sind nicht nur die letzten Tage des Abschiednehmens „kostbare Tage“, Tage der Danksagung. Jeder Tag ist kostbar und man sollte keine Zeit damit vergeuden, Menschen, an denen einem etwas liegt, zu missachten. Warte nicht darauf, etwas später zu erledigen. Sag denen, die du liebst, dass du sie liebst. Lass dich nicht durch Stolz, gesellschaftliche Konventionen, falschen Glauben davon abhalten, andere Menschen anzunehmen, wie sie sind. Revidiere deine Entscheidungen, wenn du erkennst, dass sie falsch waren. Jeder Tag ist kostbar.

Leben und Sterben, das sind zwei Nachbarn. In Holt hat die nachbarschaftliche Gemeinschaft einen hohen  Stellenwert. Es ist wunderbar mitzuerleben, wie sich die Frauen in dieser Geschichte über Generationen hinweg, von der alten Willa Johnson zu der jungen Alice, solidarisieren.

Der trostspendende Lesestoff scheint im Kern des Buches jäh unterbrochen, als Reverend Lyle den Versuch wagt, die Bergpredigt wörtlich zu interpretieren. Die christliche Nächstenliebe prallt auf den stumpfen Patriotismus des Amerikas nach 9/11.

„Kostbare Tage“ ist ein vielschichtiger Roman, ein Aufruf zur Versöhnung, ein unglaublich achtsamer Bericht über Sterbebegleitung, ein Plädoyer für das Leben. Kent Haruf hat dieses Buch kurz vor seinem Tod geschrieben. Seine raue Prosa reibt und kratzt wie ein alter Lieblingspullover.