Rezension

Der Libanon - ein zerrissenes Land

Ein Lied für die Vermissten - Pierre Jarawan

Ein Lied für die Vermissten
von Pierre Jarawan

Bewertet mit 4 Sternen

Von diesem Buch chronologisch zu berichten, ist eine kleine Herausforderung. Denn der Ich-Erzähler Amin erzählt ausgehend vom Jahr 2011 von seinem Leben, dem seiner Großeltern, seines besten Freundes Jafar, dem Libanon und vielem mehr. Dabei wechselt er Zeit und Raum derart schnell und häufig, dass ich zumindest zu Beginn etwas Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen.
Amins Großmutter Yara verließ mit ihm nach dem Tod seiner Eltern den Libanon, wohin sie knapp 13 Jahre später zurückkehren. Sie eröffnet ein Café in Beirut, wo sie auch mit Amin wohnt. Obwohl er weiß, dass sie ihn liebt, spürt er, dass sie ebenso wie die vielen Gäste bei ihnen zuhause etwas vor ihm verbergen. Und auch Jafar, sein bester Freund, scheint ihm gegenüber nicht ganz offen zu sein. Amin fühlt sich häufig als Außenstehender.
So chronologisch dies klingen mag, so wenig folgt die Geschichte tatsächlich einem Zeitablauf. Erlebnissen mit Jafar folgen Beschreibungen der Zeit in Deutschland; nach Zwischenfällen in Yaras Café 1994 kommt eine Episode aus dem Jahr 2004; Briefe seiner Mutter aus dem Jahr 1976 wechseln ab mit der Sichtung der Unterlagen der vor kurzem gestorbenen Yara 2006. Es mag kompliziert klingen und fordert zu Beginn sicherlich auch mehr Konzentration als manch andere Lektüre. Doch da die Zahl der Personen überschaubar bleibt und sie schnell unverwechselbar werden, stellen diese Sprünge in Zeit und Raum bald keine Schwierigkeit mehr dar.
Aufgeteilt sind die fast 450 Seiten in drei Teile bzw. Strophen. Auf mich machte es den Eindruck, als dominierte im ersten Teil die Absicht, die Atmosphäre im Libanon wie auch in Deutschland darzustellen. Die große Liebe Yaras zu ihrem Heimatland, die sie im Exil praktisch depressiv werden ließ. Ihr Wiederaufleben nach ihrer Rückkehr, das Lebensgefühl im Libanon, diesem zerrütteten, aber voller Lebensfreude und Hoffnung steckenden Land.
Bei Teil zwei stehen mehr die Personen im Vordergrund, wie sie zu den Menschen geworden sind, die der 13, 14jährige Amin kennt. Und in Teil drei wird klar, wieso, weshalb und was warum geschah - nur wenig bleibt offen, was mich jedoch nicht störte.
Es ist eine Lektüre, die den orientalischen Einfluss nicht verleugnen kann: die vielen kleinen Geschichten, die nah an der Realität und doch so phantastisch sind. Und die bildhaften Beschreibungen, die der Phantasie jede Menge Raum bieten.
Ein schönes, ein trauriges Buch, das eine Realität aufzeigt, die es in vielen Ländern gibt und nicht nur im Libanon lange totgeschwiegen wurde. Dass noch zusätzlich das Thema der unterdrückten und misshandelten Frauen aufgenommen wurde, hätte es nicht bedurft - darüber kann man doch gut ein weiteres Buch schreiben.