Rezension

Der Narr - vom Autor verraten

Guten Morgen, Genosse Elefant - Christopher Wilson

Guten Morgen, Genosse Elefant
von Christopher Wilson

Bewertet mit 2.5 Sternen

Juri Zipit ist ein wunderbarer Held der Geschichte: Nach einigen schrecklichen Unfällen ist er körperlich versehrt, geistig zurückgeblieben und gleichzeitig doch ein in die Herzen der Menschen blickender Kerl. Der Sohn des Moskauer Zoodirektors hat es nicht leicht im Leben, aber einen tollen Vater, der ihn neben zahlreichen zoologischen Essentials auch gelehrt hat, die Dinge stets von der positiven Seite zu sehen, und wenn nur zu sagen bleibt: „Es hätte schlimmer kommen können.“

In der stalinistischen Sowjetunion ist ein Zeitpunkt, zu dem man das kaum noch sagen kann, dann erreicht, wenn nachts der Geheimdienst anklopft und zum Mitkommen auffordert. Doch als dies Juri und seinem Vater passiert, geht es nicht in den Gulag, sondern auf einen Umweg zunächst auf die Datscha des kommunistischen Führers selbst: Väterchen Josef ist krank und traut seinen Ärzten nicht, weshalb der Zoodirektor und Tierarzt Zipit den „Genossen Elefant“ behandeln soll.

Damit ist der Zeitpunkt benannt, zu dem der Roman spielt: es ist Februar/März 1953, und Stalin wird nach einer beispiellosen Jagd auf Ärzte und jüdische Intellektuelle bald das Zeitliche segnen. Und zwar auf jener Datscha bei Kunzewo, in der er seinen innersten Kreis zu nächtlichen Saufgelagen versammelte, deren Exzesse ebenso bekannt sind wie die blutigen Exzesse ihrer Teilnehmer, allen voran Lawrentij Berija, der sich mit dem Blut der Stalinistischen Säuberungen und der Schauprozesse der 1930er Jahre befleckt hatte.

Nachdem man den treuherzig-klarsichtigen Juri und sein Talent kennen gelernt hat, die Leute zu unfreiwilligen Geständnissen zu bewegen und sie den kindlichen Betrachtungen des vermeintlichen Krüppels vorzulegen, steigt die Vorfreude auf die Begegnung mit den Chargen der sowjetischen Nomenklatur.

Wie wird der Junge mit dem reinen Herzen die Schurken entlarven? Welchen Spiegel hält er ihnen vor? Mit welchen klugen Vergleichen wird Juri die Weltanschauungen der Politverbrecher entlarven?

Gar nicht, denn sie entlarven sich selbst.

Nach der wirklich großartigen Willkommensszene in der Datscha, in der Doktor Zipits Auftrag als Nicht-Auftrag dargelegt wird, nach diesem Höhepunkt des Romans rutscht die Handlung ab in eine groteske Klamotte, die alle Gerüchte über die Saufnächte Stalins wahr werden lässt, in der alle Vorurteile und Kolportagen über den verkalkten Tyrannen Stalin und die gewalttätige Bande seiner degenerierten Verbrecher für bare Münze genommen werden.

Statt den ironischen Tonfall beizubehalten und die Stärken des Helden als Katalysator zu nutzen, um die Wirklichkeit zu filtern und in literarische Wahrheit zu verwandeln, erleben wir einen tumultuarischen Klamauk nach dem anderen – bisweilen um seiner selbst willen. Das ist nicht witzig, nicht klug und der Wahrheitsfindung nicht förderlich. In Russland wurde der ähnlich erzählende Spielfilm „The Death of Stalin“, der am gleichen Zeitpunkt ansetzt, verboten. Einerseits weil Russland keine freie Meinungsäußerung gestattet und deshalb nicht als Demokratie zu bezeichnen ist, Andererseits weil eine Zurschaustellung von kolportierten Klischees über machtgeile Scheusale in dieser Form wirkt, als würde der Sieger des Kalten Krieges seinen Triumph über den Systemfeind noch einmal feiern, indem er dem untergegangenen Sowjetreich noch einmal aufs Grab pinkelt.

Hätte ein Russe diesen Roman geschrieben, hätte ich weniger den Eindruck haben müssen, dass der Klassenfeind sich noch einmal an den „Kommis“ rächen wollte.

Viel schwerer aber wiegt das literarische Manko, dass Christopher Wilson in seinem so stark anfangenden Schelmenroman den Schelm vergisst, den Narren verrät.

Der Narr in der Geschichte hat die einzigartige Fähigkeit, hinter die Kulissen zu blicken. Nur er darf über den König lachen und so den vermeintlichen Über-Menschen als Menschen entlarven. Der Narr stellt die Fehler und Schwächen bloß und verwandelt die Fassade der scheinbaren Wirklichkeit in literarische Wahrheit. Till Eulenspiegel ist niemals Teil der Dioramen, in denen er die Eitelkeiten der Welt entlarvt.

Juri hingehen ist Teil des Bildes und gleichzeitig völlig überflüssig, da sich der geheime Macht- und Saufzirkel Stalins in Klamaukszenen selbst als Haufen idiotischer Suffköppe vorführt. Man braucht gar nicht zu ahnen, dass Berija ein gewissenloses Scheusal gewesen ist – er wird so vorgestellt und agiert so ohne jeden doppelten Boden und ohne jedes sich aufstellende Nackenhaar, der Horror dieser historischen Figur verschwindet hinter der grellen Bühnenfarbe, in der Wilson sie anstreicht.

Ich bin schwer enttäuscht von diesem schwachen Gebrauch der Narrenfigur und ihrer Möglichkeiten.

Vollends nicht verstanden habe ich die Umbenennung des Personals. Berija wird zu Bruchah, Chruschtschow zu Kruschka, Josef Wissarionjowitsch Stalin zu Josef Petrowitsch usf. Warum dieser durchsichtige Schleier über das sonst so plakativ-brachiale Geschehen? Mir unklar.

„Guten Morgen, Genosse Elefant“ fängt so stark an, wie er später nachlässt, ist witzig und originell geschrieben und vielleicht deshalb umso enttäuschender.