Rezension

Der Sommer der ersten Liebe

Der große Sommer
von Ewald Arenz

Bewertet mit 4.5 Sternen

Bis zum vergangenen Jahr war mir Ewald Arenz kein Begriff. Dann las ich "Alte Sorten" und für mich stand fest: Von dem Autor will ich mehr lesen. Mit "Der große Sommer"  hatte ich nun Gelegenheit, sein neues Buch zu lesen - und das Warten hat sich definitiv gelohnt. Erzählte "Alte Sorten" die Geschichte einer Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Frauen, geht es auch hier um Annäherung, Fremdheit, Vertrauenssuche, vor allem aber ums Erwachsenwerden.

Denn der Ich-Erzähler Frieder, etwa 16 Jahre alt, wächst Anfang der 1980-er Jahre auf in einer "verrückten" Familie, wie er selbst sagt. Sechs Kinder, zwei Hunde, zwei Katzen, der Großhaushalt wird von der Mutter gemanagt, während der Vater als nett, aber eben auch etwas lebensfremd beschrieben wird. Frieder, seine nur wenig jüngere Schwester Alma und sein bester freund Johannes sind ein untrennbares Dreierbündnis, die zusammenhalten gegen Lehrer, Spießer und - es ist schließlich die Zeit der Reagan-Jahre und Pershing-Stationierungen - mit linken Parolen ("Rotfront!") Lehrer und andere Erwachsene provozieren. Es ist die Zeit, wo der Zweite Weltkrieg noch nicht ferne Geschichte ist, sondern in den Familienerzählungen noch eine Rolle spielt und sich bei manchen Lehrern die Frage stellt, was sie wohl im Krieg gemacht haben.

Die Sommerferien sind angebrochen, doch erstmals muss Frieder auf den Familienurlaub verzichten. Seine Versetzung ist gefährdet, er muss sich für die Nachprüfung in Mathe und Latein verbessern, sonst ist nach vorangegangener Klassenwiederholung seine Schullaufbahn beendet. Nicht nur, dass ihm der Urlaub entgeht und er lernen muss, er soll für die gesamte Ferienzeit zu seinen in der gleichen Stadt lebenden Großeltern ziehen. Doch während Frieder seine Großmutter Nana innig liebt, ist das Verhältnis zum Großvater, dem Stiefvater seiner Mutter, bestenfalls distanziert. Denn der Bakteriologe ließ sich bis vor wenigen Jahren von seinen Enkeln siezen, entspricht so gar nicht dem Kumpelopa der für Schabernack mit den Großkindern zu haben ist und scheint seine Freundlichkeiten allein für seine Katze zu reservieren.

Dieser strenge Großvater kontrolliert also sechs Wochen lang Frieders Leben - und wird für Frieder zugleich zum Mysterium. Was brachte seine impulsive, künstlerisch begabte Großmutter dazu, sich in diesen Mann zu verlieben, der nur Härte und Disziplin zu kennen scheint?  Was für ein Mensch ist der Großvater hinter dem gestrengen Äußeren? 

Das Thema Liebe beschäftigt Frieder auch noch ganz persönlich, seit er im Schwimmbad Beate kennengelernt und sich sofort heftig verliebt hat. Arenz schafft es, die pubertären Unsicherheiten und Gefühlsüberschwänge ohne Voyeurismus, ohne Herablassung zu beschreiben. Ach, Millenials können die Nöte des jungen Frieder gar nicht nachvollziehen, der es verpasst hatte, Beate nach ihrer Adresse zu fragen. In der Zeit vor Google, dem allgegenwärtigen Handy und Telefon-Flatrate ist er auf das Telefonbuch und reichlich Groschenvorrat angewiesen, um von einer Telefonzelle aus all die Nummern mit dem entsprechenden Nachnamen anzurufen. An der Unsicherheit, der Angst vor Zurückweisung, den tastenden Worten und vorsichtigen Berührungen der ersten jungen Liebe hat sich dagegen vermutlich nicht ganz so viel geändert.

"Der große Sommer", zwischen erster Liebe und der ersten Begegnung mit dem Tod, zwischen vielen Fragen und großen Hoffnungen, zwischen Mutproben und Ausgelassenheit, das ist auch der Sommer im Freibad mit seinen Gerüchen und Geräuschen, die Arenz mit seiner poetischen Sprache zum Schwingen bringt. "Der große Sommer" hat die Süße der Sommerferien, die einmal unendlich schienen. Dass die Ahnung des Herbstes schon in der Luft hängt, macht diese Zeit nur noch wertvoller. 

Wieder einmal überzeugt mich Arenz in diesem Buch vor allem mit seiner Sprache, seinen liebevoll gezeichneten Personen, seiner Beobachtungsgabe und seiner ruhigen Erzählweise.  Dass beim Lesen automatisch Erinnerungen an eigene Schwimmbadsommer geweckt werden, verbindet nur noch mehr mit dem Buch.