Rezension

Der Sonne entgegen

Der Platz an der Sonne - Christian Torkler

Der Platz an der Sonne
von Christian Torkler

Bewertet mit 3 Sternen

Ich bin in einem Land geboren, dass es nicht mehr gibt. Sicher, die Orte sind noch alle da, teilweise auch die Menschen, aber das Land mit seiner Regierung und seinem System gibt es nicht mehr. Davon habe ich als kleines Kind auch gar nicht so viel mitbekommen. Aber die Veränderungen nach dem Ende der Republik sehr wohl. Sie dauern bis heute an und sind immer noch Thema, auf beiden Seiten, wenn auch in unterschiedlichen Akzenten und obwohl es die Seiten nicht mehr gibt und wir nun in ganz Deutschland eigentlich einen Platz an der Sonne haben. Und diesen sonnigen Platz wollen wir nicht verlieren, besonders die nicht, die sowieso schon im Halbschatten sitzen. Wenn Menschen anderer Länder in unser Land strömen, dann könnte es eng werden und man wird vielleicht abgedrängt, ins Dunkle, sieht die Sonne nicht mehr. Das ist eine diffuse abstrakte Angst, gegen die man gar nicht gut ankommt und die man nicht gut aushalten kann. Am besten man lässt einfach niemanden von außen mehr rein, macht die Schotten dicht, zieht die Mauern hoch, fängt jeden ab und schickt in wieder zurück. Die Sonne ist doch nicht für alle da.

Christian Torkler ist auch in dem Land geboren, dass es nicht mehr gibt. Und er hat Verwandtschaft, die Jahrzehnte früher ihre Heimat aufgeben mussten, weil ihr Grund und Boden an ein anderes Land übergangen ist. Dort nun andere Nationalitäten leben. Fängt man überhaupt einmal damit an, ist man ganz schnell in der europäischen Geschichte angekommen und verliert ruckzuck den Faden, wer wann welches Gebiet von wem wie erobert, verloren, gewonnen, verzockt hat. Geschichten um Flucht und Vertreibung sind so alt, wie die Menschheit selbst. Wir in der Sonne möchten daran aber lieber nicht so oft denken. Denn uns geht es gut. Daher hat sich Torkler ein Gedankenspiel überlegt. Er verändert ein historisches Detail der deutschen Nachkriegsgeschichte und schon sehen wir Leser uns mit einer ganz neuen Weltgeschichte konfrontiert. Kein Frieden nach 1945, erst Anfang der 60er Jahre ist man des Kämpfens allmählich müde. Das Land ist mehrfach geteilt, der Freistaat Bayern hat endlich wieder seine Unabhängigkeit. Doch Europa wurde aufgerieben im Machtkampf zwischen Ost und West, während sich Afrika entwickeln durfte und nun vorn an der Spitze steht. Es ist das gelobte Land, wer als Europäer irgendwie sein Glück machen will, der versucht auf den afrikanischen Kontinent zu kommen. Und so präsentiert uns Torkler einen Ich-Erzähler, der im einfachen Berliner Singsang in der ersten Hälfte des Romans von den prekären, ungerechten, korrupten Verhältnissen in der Neuen Preußischen Republik berichtet und sich nach allerlei persönlichen Tragödien in der zweiten Hälfte auf den Weg ins gelobte Land macht. Ein Preuße auf der Flucht nach Afrika.

Es ist die Grundidee des Autors, die mich neugierig auf sein Buch werden ließ. Ein anderes Deutschland. Ein armes, geteiltes, undemokratisches Land, dass Entwicklungshilfe aus Afrika erhält. Ja, ich war auch interessiert an der Flucht, den Umständen, der Hoffnung, den Möglichkeiten. Doch Torkler hat keinen Plan B im Gepäck. Er dreht nur die Verhältnisse um, tauscht die Seiten, lässt die Europäer auf dem Mittelmeer in ihren überfüllten Hochsee untauglichen Booten ertrinken, sie jede hart erarbeitete Mark dem Schlepper in den Rachen werfen, der sie vielleicht über die Grenze bringt und sie dann dort an die Grenzer verrät und doppelt kassiert. Die Lebensumstände sind bitter und die Fluchtgeschichte eine typische Erzählung über Flucht. Soll sie mich (mehr) berühren, weil der Protagonist mein Landsmann ist oder will mir der Autor einfach nur aufzeigen, wie viel Glück ich hatte, auf der sonnigen Seite auf die Welt gekommen zu sein? Darüber bin ich mir bewusst. Ziemlich klar sogar, gerade auch weil es mein Geburtsland nicht mehr gibt. Ich stimme Juli Zeh zu, die auf dem Klappentext zitiert wird: „Nicht wer wir sind, entscheidet über unseren Platz in der Welt, sondern wo wir geboren werden.“ Doch zu dieser Erkenntnis braucht es für mich nicht den Roman von Christian Torkler, sondern dazu reicht selbst der flüchtigste Blick aufs aktuelle Weltgeschehen. Was uns fehlt, ist der Plan B. Wie bekommen wir, die Menschheit, es endlich fertig, dass für jeden von uns die Sonne scheint?