Rezension

Der tiefe Fall nach dem Aufstieg

High-Rise - James Gr. Ballard

High-Rise
von James Gr. Ballard

Bewertet mit 4 Sternen

Es ist der wahrgewordene Traum des Architekten Anthony Royal: Ein supermodernes, autarkes Hochhaus am Rande des Londoner Stadtkerns mit 40 Stockwerken, das 2000 Bewohnern Platz sowie alle Annehmlichkeiten, die es zum Leben braucht, bietet. Lediglich um zur Arbeit zu gelangen, müssen die Bewohner die "vertikale Stadt" noch verlassen. Doch als nach und nach immer öfter Defekte im Gebäude auftreten und schließlich die Stromversorgung ganz zusammenbricht, eskaliert die Situation vollständig und zwischen den Bewohnern bricht ein wahrer Klassenkrieg aus.

"In vieler Hinsicht war das Hochhaus ein Musterbespiel für all das, was die Technologie getan hatte, um die Manifestation einer wahrhaft "freien" Psychopathologie zu ermöglichen."

Leseeindruck

James Graham Ballard veröffentlichte "High-Rise" bereits 1975 und doch hat dieser Roman in keinster Weise an Aktualität eingebüßt. Er ist Teil der „urbanen Trilogie“, bestehend aus "Crash", "Betoninsel" und "High-Rise". Im deutschsprachigen Raum wurde er bereits unter den Titeln "Der Block" und "Hochhaus" veröffentlicht, fand aber 2016 im Zuge der Verfilmung von Ben Wheatley eine Neuauflage im Diaphanes-Verlag. Die beiden eben erwähnten anderen Teile der Trilogie las ich bereits und bin seither fasziniert von Ballards ganz speziellem Stil. Er war ein Visionär und vermochte es, den Horror des modernen Alltäglichen konkret und grotesk aufzuzeigen und damit den Leser einerseits abzuschrecken, andererseits aber auch zu fesseln. Seine Bücher sind wie ein schrecklicher Autounfall – man will eigentlich nicht hinschauen, tut es aber trotzdem, weil man tief verborgen von einer morbiden Faszination getrieben ist.

Ist es also ein Zufall, dass er dem Leser in High-Rise drei Protagonisten anbietet, die aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammen, keinen von ihnen sympathisch oder unsympathisch erscheinen lässt, sie mit dunklen aber gleichermaßen faszinierenden Zügen ausstattet? Wohl kaum. Ebenso auffällig sind die Namen von Royal, dem Erschaffer und Erbauer des Wunderwerks der Technik, der über allen anderen thront, sowie von Wilder, dem Kameramann aus der unteren Schicht, der sich nach sozialem Aufstieg sehnt und die Erklimmung des Gebäudes deshalb als Mission ansieht. Zu guter Letzt ist da noch Dr. Robert Laing, ein Akademiker, der in der sogenannten Pufferzone eingezogen ist, die Mittelschicht. Er ist angesehen in beiden Richtungen aber auch hin- und hergerissen in seiner Vermittlerrolle. Das wird im Mitelteil des Romans besonders deutlich. Die Figur des Doktors ist deshalb wohl auch am ehesten die, mit der man sich als Leser identifizieren kann und möchte. Die goldene Mitte, mit Tendenzen zum Dunklen, Triebhaften aber auch mit edlen Charakterzügen und so etwas wie einem Gewissen. Es ist aber auch klar, dass er nichts anderes sein kann als eine tragische Figur, die dem Druck aus beiden Richtungen womöglich nicht standhalten kann und sich entweder beugen muss oder zerbrechen wird.

Es ist die ständige Neugierde, die den Leser durch die Seiten fliegen lässt, die Hoffnung auf einen guten Ausgang gepaart mit der Ahnung, das sie sich niemals erfüllen kann. Die Spannung ist stets spürbar, die Mauer auf die das Auto mit uns als Insassen zusteuert rückt unaufhaltsam näher und doch tritt man nicht auf die Bremse. Und so verfolgt man die Eskalationen, die Gewalt, die Barbarei, die Verrohung und das Morden und fragt sich unaufhörlich: Warum verlässt niemand das Gebäude oder holt Hilfe? Warum – um diese eine Frage kreist das Hirn und die einzige Antwort, die ich mir darauf geben kann, lautet: Weil Venunft, Sitte und Anstand anstrengend sind. Das wahre Ich ständig kontrollieren zu müssen, ist ein Kraftakt, der ermüdet und täglich aufs Neue eine Herausforderung darstellt. Es ist einfacher, sich gehenlassen zu können, keinen Regeln – außer denen des Überlebens – folgen zu müssen, bedeutet Freiheit und Ursprünglichkeit. Es gibt nur drei Dinge, die dann noch von Bedeutung sind: Nahrung, Fortpflanzung und Überleben. Die Privilegien des Stärkeren, die Natur jedes Lebewesens. Und so wird die Welt außerhalb des Blocks furchteinflößend und unattraktiv, der Überlebenskampf im Inneren hingegen verlockend und natürlich, auch oder gerade wegen der ständigen Gefahr, den Tod zu finden. Denn nichts belebt mehr als der Blick in das Angesicht des Todes.

"Die Dunkelheit war beruhigender, eine Umgebung, wo wirkliche Illusionen gedeihen konnten."

Fazit

Ein unbequemer, furchteinflößender Roman, der fesselt und gleichermaßen abstößt. Für mich definitiv lesenswert aber sicher nicht für jedermann eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Nichts für empfindliche Gemüter aber in jedem Fall viel Stoff zum Nachdenken.