Rezension

Der Titel ist Programm

Was uns erinnern lässt - Kati Naumann

Was uns erinnern lässt
von Kati Naumann

Bewertet mit 5 Sternen

Kati Nauman verbindet in ihrem Roman geschickt die moderne, vernetzte Welt von heute mit einem herrlichen Stückchen Erde, das mitsamt der dort lebenden Familie im Verlauf der DDR-Geschichte vom Rest der Welt abgeschnitten wurde – abgeschnitten von der Telefonleitung, von der Postzustellung, sowie von der medizinischen Notversorgung. Dieser scheinbare Widerspruch bildet das Verbindungselement zwischen zwei Handlungssträngen, die die Geschichte des Hotels Waldeshöh von den 1950er bis in die 1970er Jahre einmal live und einmal rückblickend begleiten.

Die Moderne wird durch die junge Milla vertreten, deren Leben von einer gewissen Trostlosigkeit geprägt zu sein scheint. Als Alleinerziehende entgleitet ihr der langsam erwachsenwerdende Sohn Neo, der bisher ihr Leben bestimmt hat. Ihr Brotjob in einer Anwaltskanzlei ist auch nicht gerade erfüllend. Begeistern kann sie sich für Lost Places, Orte, die vor vielen Jahren verlassen wurden und wie eine Zeitkapsel das vergangene Leben in Form von zurückgelassenen Gegenständen konserviert haben. Das Spekulieren über die kleinen Geheimnisse der ehemaligen Bewohner befriedigt Sensationsgelüste und voyeuristische Bedürfnisse. Millas größter Traum ist die Entdeckung eines solchen Lost Place, und zwar als erste. So ist sie in 2017 im Thüringer Wald abseits der Wanderwege unterwegs und findet einen überwucherten Keller.

Die Vergangenheit verkörpert Christine Dressel, die im Hotel Waldeshöh aufgewachsen ist. Sie hat den Ausbau der innerdeutschen Grenze miterlebt, am eigenen Leib viel intensiver als die meisten DDR-Bürger erfahren, welche Bedeutung und Auswirkungen diese Grenze für die einfachen Leute hatte.

Ich konnte mich mit beiden Protagonistinnen identifizieren, die Nöte und Sorgen beider gut nachvollziehen, Millas Hin- und Hergerissenheit bezüglich der Sinnhaftigkeit ihrer Freizeitaktivitäten sind mir ebenso ein Begriff wie die Heimatverbundenheit von Christine. Selbst Andreas, Christines Bruder, der im Roman unnahbar und ein wenig grummelig erscheint, konnte ich gut verstehen. Diese Reserviertheit gegenüber Unbekanntem, nicht nur Menschen, sondern auch „neumodischem Schnickschnack“, ist, so glaube ich, ein typisches Verhalten für diese Generation. Ich mochte Andreas sehr, und zwar mitsamt seines Schäferhundes Lux, der genauso tickt wie er.

Für mich war „Was uns erinnern lässt“ genau das, was der Titel aussagt, ein Anschub, mich zu erinnern: an meine eigene Kindheit im Sperrgebiet, an einen Kindergeburtstag im 500 Meter Schutzstreifen, an den vorgezeigten Pionierausweis, um den Schlagbaum zu passieren. Es war eine Erinnerung an die Angepasstheit der Menschen in der DDR, an den Ärger, den ich bekam, weil ich draußen beim Spielen „Like A Virgin“ von Madonna vermutlich falsch, aber erkennbar sang. Das hatte ich schon fast vergessen. Die Darstellung war für mich durchweg glaubwürdig, nichts schien mir übertrieben. Ich bin dankbar für diesen Roman. Sehr gern empfehle ich ihn allen Wissenden und erst recht allen "Unwissenden", die wo anders aufgewachsen oder später geboren sind, weiter.