Rezension

Der ungeklärte Tod eines jungen Stockholmers - und seine Vorgeschichte

Alles, was ich nicht erinnere - Jonas Hassen Khemiri

Alles, was ich nicht erinnere
von Jonas Hassen Khemiri

Bewertet mit 5 Sternen

Samuel ist tödlich mit dem Auto verunglückt und ein Berichterstatter ist als Interviewer auf den Spuren des jungen Mannes unterwegs. Ob Samuels Tod ein Unfall war, wäre noch zu klären. Textsplitter werden sich am Ende zum Bild eines besonderen jungen Mannes zusammenfügen. Zu Wort kommen Laide, Samuels Partnerin in einer großen, turbulenten Liebe, Vandad, Samuels Kumpel und Mitbewohner, und weitere Personen, die Samuel gekannt haben. Das abgebrannte Haus von Samuels Großmutter spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, als wäre es auch eine Bezugsperson für Samuel gewesen. Samuel war in seiner Familie der einzige, der sich um die demente Großmutter im Heim kümmerte. Sich auch noch um das leer stehende Haus der Oma zu kümmern, hat ihn vermutlich überfordert. Die Interviews verlaufen nicht so glatt, wie der Chronist es gern hätte. Er muss sich und seine Motive erklären und seine Interviewpartner scheinen darum zu konkurrieren, wer von ihnen der verlässlichste Zeuge ist. Einzig Vandad fällt aus dem Rahmen, als er fragt, was ihm das Interview einbringen wird.

Samuel erhielt seinen unauffälligen Namen, damit er als Kind eines nordafrikanischen Vaters in Stockholm keine Probleme bekommen würde. Er hat einmal Politik studiert, um die Welt zu retten, und anschließend beim Amt für Migration gearbeitet. Hier lernt er Laide kennen, die für Klienten übersetzt. Vandad war in der Parallelklasse von Samuels älterer Schwester Sara. Er scheint sich aus der ehemaligen Clique abgesetzt zu haben und arbeitet als Möbelpacker. Vandad wirkt so chamäleonhaft, so windig, dass Samuel diesem „Kumpel“ sicherlich nicht gewachsen war. Laide (Adelaide) ist Tochter von Asylbewerbern und kehrte vor kurzem nach fünf Jahren als Dolmetscherin aus Paris zurück. In Schweden arbeitet sie u. a. auf Abruf als Dolmetscherin für die Polizei. Dabei kommt sie mit Migrantenschicksalen und Gewalt gegen Frauen von Einwanderern in Kontakt. Laide und Samuel kümmern sich um die Verlierer des Systems, die außer ihnen beiden niemanden zu interessieren scheinen. Eine entscheidende Rolle in Samuels Leben scheint eine Frau zu spielen, die sich Pantherin nennt und als Künstlerin in Berlin lebt. Sie wird über Samuel befragt, und schließlich geht es darum, wer der Interviewer selbst eigentlich ist.

Vor der Kulisse aktueller Probleme von Asylbewerbern und illegalen Einwanderern in Schweden setzt Jonas Hassen Khemiri in seinen Ermittlungen zu Samuel eine komplexe Handlung zusammen, in der sich mehrere Problemkreise überlappen. Die Beziehungen und Ereignisse halten sich wie bei einem Mobile gegenseitig in Bewegung, bis die Situation eskaliert und das Mobile zerfällt und abstürzt. Durch die Interviewform mit ihrer subjektiven Sicht wird eine eigenartig beunruhigende Atmosphäre erzeugt, über der das Misstrauen der Figuren gegeneinander schwebt. Ich fragte mich immer wieder, ob nun alle Personen aufgetreten sind oder noch weitere Enthüllungen bevorstehen.

Nach eigenen Aussagen will Khemiri Menschen durch ihre Sprache entstehen lassen und Dinge in Worte fassen, damit sie in Erinnerung bleiben. Dabei ist ein herausfordernder und temporeicher Text entstanden, in der deutschen Übersetzung in einer für die Figuren wie maßgeschneiderterten jungen Sprache.

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Zitat
„…. Der Mann wollte mir die Artischocken schenken, aber ich habe bezahlt, ich wollte nichts umsonst haben, ich nahm die Plastiktüte und ging nach Hause, nach einer Viertelstunde merkte ich, dass ich in die falschen Richtung unterwegs war, ich machte kehrt und ging nach Hause, ich hatte Artischocken gekauft, die Sonne schien, zwei Typen sprachen über Ananastomaten, vor einem Möbelgeschäft stand ein Laster und lud Lampen und Kommoden aus. Vor einer Kneipe glitzerten die Biere in den Plastikgläsern, es war ein schöner Tag, den Leuten ging es gut, Fahrräder schwankten vorbei, Taxis hupten, Katzen maunzten, die Stadt pulsierte, aber Samuel war tot.“ (S. 86 )