Rezension

Der verdrehte Rückblick auf die junge BRD aus der Sicht eines Manisch-Depressiven

Die Erfindung der RAF durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969
von Frank Witzel

Bewertet mit 4 Sternen

Kann man sich über 800 Seiten einem Thema widmen, ohne auf den Punkt zu kommen, den Leser aber trotzdem, durch Andeutungen von brisanten Themen, bis zum Schluss bei der Stange halten? Frank Witzel scheint es mit seinem Buch zumindest bei mir geschafft zu haben. Dennis Pohls (vom Spex) Aussage im Klappentext "Ein famoses Schattenspiel der alten BRD", scheint diesen Roman in meinen Augen noch am ehesten zu beschreiben. Ein Schattenspiel, bei dem das Gegenständliche nicht zu fassen ist, denn so wirken die Handlungsstränge in diesem Buch, die sich immer wieder der Realität durch Traum- und Wahnvorstellungen entziehen.

Die RAF war schon ein Reizwort im Titel, das mich nach diesem Buch greifen ließ und gewisse Erwartungen bei mir weckte. Dabei erwies sich dieses Thema nur in der Gleichzeitigkeit mit dem Heranwachsen des Teenagers als relevant. Verknüpft mit der Altnaziproblematik der jungen BRD und dem Aufstand gegen das Hergebrachte, dem Verlust des Vertrauens der Jugend in die eignen Eltern und dem Vorbild der DDR gleich hinter der deutsch-deutschen Grenze, vermischen sich nun auch die Erinnerungen des Teenagers von tatsächlichen Ereignissen mit Wunschvorstellungen, nicht im romantischen, sondern im selbstzerstörerischen Sinne.

Schleierhaft bleibt, ob sich der Teenager an Aktionen, oder Überfällen wirklich beteiligt hat, oder ob es seinen manischen Phasen zuzuschreiben ist, dass er Schlagzeilen aus dieser Zeit in seine gewünschte Biografie, gleich der Hagiografien in Kapitel 79, einbaut. Zudem stellt er zum Vergleich "andere Pubertäten", wie zum Beispiel u. a. die von Max Reger oder Christoph Gansthaler seiner gegenüber, und relativiert damit seine eigene Außergewöhnlichkeit und damit seine zu behandelnde "Krankheit", die uns ins Hier und Jetzt bringt und uns die Perspektive zeigt, aus der dieser Roman geschreiben wurde. In seiner Rede vor der Klinikleitung (Kap. 85), schweift er dann auch wieder vom Thema ab und verdeutlicht so seine "Nichtgenesung".

Gedankenexperimente und kreative Textpassagen machen diesen Roman zu einer Herausforderung für den roten Faden, aber ein paar Umwege in die eigenen Kindheitserinnerungen (sofern man vor 1970 geboren ist, schätze ich mal) und eine Aufarbeitung der dunklen Seite der BRD, versöhnen den Leser mit der Herkulesaufgabe, diesem Wust, Kapitel für Kapitel standzuhalten.

Ich bin erleichtert, das Buch endlich zuklappen zu können, aber auch froh, es doch aufgeschlagen zu haben. Aber beim nächsten langen, komplizierten Buchtitel werde ich ganz genau darüber nachdenken, was sich dahinter verbergen könnte, oder einfach das Risiko eingehen und überrascht werden.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 04. April 2019 um 18:07

Haha, eine kluge Rezension!!! (Wie konnte ich sie übersehen?)

wandagreen kommentierte am 13. April 2019 um 09:45

Ich glaub ja an die Krankheit ! Nichts davon ist passiert.

Emswashed kommentierte am 13. April 2019 um 16:21

Nachdem ich "Die Welt im Rücken" von Melle gelesen habe, vermute ich hinter jedem 2. Buch einen manisch-depressiven Schriftsteller. Hat man erst einmal diese verdrehte Sicht verinnerlicht, macht so manches "komische" Werk auch wieder Spaß beim Lesen. ;-)

wandagreen kommentierte am 13. April 2019 um 16:25

Du fandest das gut, hm? Ich fand das so schlecht. So ein sich selbstbemitleidender Jammerlappen. Kann man ja sein. Aber nicht öffentlichwirksam. Ekelig.