Rezension

Der verschenkte erste Eindruck – entfernen Sie den Umschlag ungelesen!

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 3 Sternen

Phillips wollte "Gesellschaftsroman", in der Karte stand "literarischer Thriller", serviert wurde salzarme Kost mit Kamtschatkawürze. Schade

Julia Phillips hat sich in ihrem Debütroman viel vorgenommen, wie sie im Interview mit ihrem Verlag verrät. Nicht nur will sie „das Spektrum von Gewalt in den Leben von Frauen zu untersuchen“ (S. VI), sondern auch das Verständnis ihrer Leser darüber weiterentwickeln, dass die Vereinigten Staaten von heute auch ein Produkt der Systemauseinandersetzung „mit und in Abgrenzung zur Sowjetunion“ sei (S. VI f.), wozu ihre Roman auf der Folie der postsowjetischen Region Kamtschatka angesiedelt ist. Frauen und Politik sind zwei der drei Pole dieses Romans, dessen Anliegen nichts geringeres sein solle, als eine „Gelegenheit, die größeren Zusammenhänge unserer Welt zu verstehen“. (S. V) Es haben sich schon bessere Autoren mit weniger Aufgaben beladen – und verhoben.

Phillips setzt ihre Ideen nun in einer Geschichte um, deren Auswahl das Grundproblem ihres Romans konstituieren und ihrer eigentlichen Idee im Weg stehen: In ihrer Begeisterung für „Märchen über Mädchen in Gefahr“ (S. V) konstruiert sie als Dreh- und Angelpunkt ihres aus 14 Kapiteln bestehenden Episodenromans eine Kriminalhandlung über das Verschwinden der beiden Mädchen Aljona und Sofija. Als dritten Pol der Erzählung gehrt es Phillips darum zu „verstehen, wer, abgesehen von dem engen Kreis aus Opfer, Täter und Ermittler, eine Rolle dabei spielt (…) und wer noch davon betroffen ist.“ (S. V)

Das ist klug gedacht, denn mit diesem Ansatz kann es gelingen, sich einem Kriminalfalls aus vielen Richtungen zu nähern und Spannung aus den unterschiedlichen Wissensständen der mit dem Fall zusammenhängenden Menschen zu erzeugen. Alle Personen haben auch mit den Mädchen zu tun, aber meist eher mittel- als unmittelbar. Wenn man bei der Lektüre auf Seite 268 nach kapitelweisen Exkursionen wieder einmal auf die beiden Mädchen gestoßen wird, die so lange nicht Thema gewesen sind, dann wird klar, dass die Kriminalhandlung eine falsche Autorenentscheidung gewesen ist. Sie lenkt die Leseerwartung zu sehr auf eine spannende Geschichte (verschärft durch die Verlagsentscheidung, auf dem Buchrücken irreführende Zitate über einen „literarischen Thriller“ oder ein „Meisterwerk (…) fiebernd, atemlos“ abzudrucken). Aber spannend ist „Das Verschwinden der Erde“ nun gerade nicht.

Den beiden Mädchen werden das erste und das letzte Kapitel gewidmet, die anderen zwölf ebenso vielen Frauen aus dem Umfeld der Handlung. Umfeld? Ja – zum Beispiel geht es um die Gattin des ermittelnden Polizisten oder die Patientin einer Tante eines anderen verschwundenen Mädchens. Gäbe es jetzt diese Kriminalhandlung nicht, wären die gesellschaftskritischen Ambitionen des Textes weniger verschüttet. Man erfährt so einiges über die Stellung der Frau im Sowjetreich und in der Umbruchszeit danach; über die Doppelgesichtigkeit der Ehemänner in nüchternem oder betrunkenem Zustand – und überhaupt über den grassierenden Alkoholabusus aller Russen und Ureinwohner; und natürlich so manches über die Spannungen zwischen den Ureinwohnern Kamtschatkas und den als imperialistische Eroberer zugewanderten „Weißen“, den Russen – aber nicht so viel, wie mich interessiert hätte. Rassismus in der Sowjetrepublik ist meines Erachtens ein noch unterbelichtetes Thema, immerhin heißt es doch im Artikel 123 (Kapitel X) der Verfassung der UdSSR, die mir gerade zufällig (wirklich!) vorliegt: „Die Gleichberechtigung der Bürger der UdSSR auf sämtlichen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse, ist unverbrüchliches Gesetz.“ War das je glaubhaft? Oder hat sich da etwas geändert seit Ende des kalten Krieges, was ja durchaus sein kann? Dazu hätte ich gern mehr gewusst als die Gegenüberstellung von Folklore (Tanztruppe, ewenische Sprache) und „weißen Polizisten“.

Die Gestaltung der Episoden stellt stets eine neue Figur vor, und zwar mit Vorgeschichte, inneren Wünschen und Enttäuschungen, Wendepunkten des Lebens und (manchmal) Beziehung zu den verschwundenen Mädchen. Was in einem französischen Episodenfilm funktioniert, weil man nämlich die Personen, die eine Szene betreten, sofort an den Gesichtern wiedererkennen kann, funktioniert im Roman nicht, wenn nicht explizit erläutert wird, das übrigens diese Polizistin da schon vier Kapitel vorher gemeinsam mit irgendeiner Mutter irgendeiner Cousine Whisky und Wodka getrunken hat. Sich immer wieder an eine neue Figur gewöhnen zu müssen, strengt an. Warum musste das sein? Um möglichst viele Facetten der eingangs geschilderten Ansprüche der Autorin ansprechen zu können. Ist das gelungen? Nein.

Warum nicht? Zum einen kann man „die größeren Zusammenhänge unserer Welt“ (S. V) nicht erklären, wenn man die Hälfte der Menschheit weglässt, die Männer zum Beispiel. Außerdem ist es eine weitere fehlerhafte Autorenentscheidung, so viele Akademiker auftreten zu lassen: Die Zahl der Studentinnen, Forscherinnen, Mitarbeiter einer Geologischen Forschungsstation, Journalisten ist derartig groß, dass man sich fragt, wo eigentlich die ganzen weniger Gebildeten abgeblieben sind – gerade in der für ihre Universitätsdichte nicht gerade bekannten, unzugänglichen Polarhalbinsel Kamtschatka. Hier schlägt sich Phillips‘ Rechercheumfeld nieder, denn die Autorin hat ein Studienjahr in Petropawlowsk zugebracht. Aber mir fehlt noch viel mehr der Einblick in die schlimmen Verhältnisse der verrenteten Werktätigen, deren pure Existenz jeden tag bedroht ist. Hierzu muss man wahrscheinlich besser eine russische Autorin lesen.

Dennoch hat der Roman seine Stärken, wenn sie auch nicht in der Grundkonstruktion oder der ausgewählten Kiminalhandlung liegen.

Phillips erzählt ihre Episoden gut. Ihr gelingt es, zwölf Frauenbiographien kurzgeschichtenartig aufleben zu lassen, deren spezifischen Probleme zu schildern. Zwar scherte mich der innere Zusammenhang zur Kernhandlung nicht mehr, aber es gelang mir dennoch, Allgemeingültiges aus den Kapiteln zu ziehen (mit der Einschränkung des vorvergangenen Absatzes). Vor allem deutlich geworden ist eine melancholische Grundstimmung auf Kamtschatka, die erstens die Ureinwohner betrifft, die einem diffusen und wahrscheinlich sehr nachvollziehbaren Verlustgefühl anhängen, was ihre Kultur und Stellung in Russland betrifft. Zweitens ein ähnlich geartetes Verlustgefühl, das sich nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Ordnung eingestellt hat und alle jene befallen hat, denen es in der „guten alten Zeit“ besser gegangen ist.

Und schließlich drittens – aber das dauert bis zum Kapitel, in dem sich die Mütter der verschwundenen Mädchen endlich treffen und ihre Episode bekommen – wird der ganze Abgrund aufgerissen, der sich auftut, wenn Kinder vermisst werden, zumal die eigenen.

Dreimal stellt sich Phantomschmerz über eine verschwundene Welt ein, die angesichts der Naturschilderungen des Werkes zurecht mit der verschwindenden Erde gleichgesetzt – wird einer „Disappearing Earth“ (Originaltitel).

Leider hat man nur eine Gelegenheit zu einem ersten Eindruck, aber mich würde es nicht wundern, wenn der Roman trotz seiner völlig überladenen Anliegen besser funktioniert hätte, wäre mir nicht ein „Thriller“ angekündigt worden, sondern ein die Gesellschaft des postkommunistischen Kamtschatkas beschreibender Episodenroman.

Kommentare

Emswashed bemerkte am 24. Januar 2021 um 11:04

Sehr gut begründete drei Sterne! Das macht neugierig auf ein 5 -Sterne-Buch.

katzenminze kommentierte am 11. Februar 2021 um 11:14

Ich bin insgesamt nicht deiner Meinung, aber mit dem "literarischer Thriller"-Zitat (Meinung eines Rezensenten im Übrigen und keine Genreeinordnung...) haben sie sich ins eigene Fleisch geschnitten. Erstaunlich viele Leser haben das "ROMAN" auf dem Cover komplett ignoriert und einen Thriller erwartet. Meine Erwartungen waren ein Roman mit Krimielementen und etwas über Kamtschatka zu lernen und die wurden voll und ganz erfüllt.

Beust kommentierte am 12. Februar 2021 um 22:41

Zitat einer Rezension ja, aber indem der Verlag das Zitat als drittgrößte Zeile auf dem Umschlag darstellt, macht er sich die Aussage zu eigen. 

katzenminze kommentierte am 12. Februar 2021 um 22:53

Ich sag doch, es war blöd, das so zu bewerben. Trotzdem schaue ich immer noch vorne aufs Buch, wenn ich das Genre herausfinden will und nicht hinten.

Beust kommentierte am 12. Februar 2021 um 22:55

Klar, aber ist "Roman" ein Widerspruch zu "literarischer Thriller"? Ständ hinten Versepos und vorn Roman, okay. Aber der Thriller ist ein Genre des Romans.

katzenminze kommentierte am 12. Februar 2021 um 23:08

Nein, es ist kein Widerspruch. Tatsächlich finde ich es recht passend, auch wenn ich persönlich eher "literarischer Krimi" gesagt hätte um nich komplett zu übertreiben. Aber ich finde auch, dass mit der Covergestaltung insgesamt eigentlich kein Zweifel aufkommen sollte, dass es kein "echter" Thriller ist.

Beust kommentierte am 13. Februar 2021 um 16:59

D'accord - blöd für den Toman, dass er falsche Erwartungen nicht bedienen kann.