Rezension

Der Weg der Winns führt durch ein anderes Land als man erwarten könnte

Der Salzpfad - Raynor Winn

Der Salzpfad
von Raynor Winn

Bewertet mit 4 Sternen

Als die Waliser Raynor und Moth Winn 50 Jahre alt sind, werden sie obdachlos und verlieren alles, was sie sich in 20 Jahren mit eigener Arbeit aufgebaut haben. Sie sind auf ein Geschäft mit einem betrügerischen Freund hereingefallen und bleiben auf den gemeinsamen Schulden sitzen. Kurz bevor der Gerichtsvollzieher klingelt, haben sie die Diagnose erhalten, dass Moth an CBD (kortikobasaler Degeneration) erkrankt ist, einer unheilbaren neurodegenerativen Erkrankung. Noch bevor sie sich mit der Krankheit auseinandergesetzt haben, setzen sie alles auf eine Karte. Wenn sie von nun an obdachlos sind, werden sie auf dem 1000km langen South West Coast Path wandern. Eine andere Wahl bleibt ihnen nicht. Kaum auf die Wanderung vorbereitet und mit untauglicher Ausrüstung marschieren sie einfach los. Mit 50€ Wochenbudget kann man sich an Englands Südwestküste noch nicht einmal einen Campingplatz für ein kleines Zelt leisten, so dass die beiden meistens wild campen und am Essen sparen müssen. Ungewöhnlich für Einheimische, sind sie weder auf die Hitze im Sommer vorbereitet, noch darauf, dass ein Küstenwanderweg nicht zwangsläufig in der Ebene verlaufen muss. Als Leser fragt man sich auch, ob die monatelange Anstrengung und die einseitige Ernährung für einen schwer Kranken sinnvoll sein kann.

Zu Beginn fand ich es schwierig in das Buch hineinzukommen, weil ich einen Bericht über den Küstenweg erwartet habe. Würde jemand von mir fordern: sag mal was zum SW-Coast-Path, würde ich spontan antworten: gigantische Steilküsten, Menschen mit Hunden, Bäuerinnen, Campingplätze. Raynor Winns Stichworte sind: Obdachlosigkeit, der Richter ist schuld, es gibt keinen Weg zurück. Details der Privatinsolvenz sind für Außenstehende uninteressant, u. a. weil die Winns sich als Opfer sehen und ihre eigene Blauäugigkeit verdrängen. Die Autorin hat sich offenbar alles von der Seele geschrieben, ohne zu überlegen, was andere Menschen interessieren könnte. Nachdem die anfängliche Klagespur und Konzentration auf das eigene Schicksal überwunden war, richtete sich Raynors Blick durchaus humorvoll auf andere Menschen und stimmungsvolle Augenblicke, die man so nur zu Fuß erleben wird. Von Fans, die Moth irrtümlich für einen populären Schriftsteller halten, über die Subkultur der Rettungsschwimmer an der Küste bis zu Engeln in Menschengestalt, die im richtigen Moment helfen, kommt es zu einer Reihe anrührender, ermunternder Begegnungen und schließlich zu einem runden Ende.

Mich haben die beiden ergrauten Wanderer an die Pilgerreise des Harold Fry erinnert – einfach losmarschieren und den Rest dem Zufall überlassen. Erinnert habe ich mich schmunzelnd an eigene Blauäugigkeiten, die man seinen Kindern später besser verschweigt; das Ding mit dem Truppenübungsplatz z. B. …

Wer sich allgemeiner für einen Pilgerweg zur Überwindung einer schweren Krise interessiert, wird mit dem Buch vermutlich glücklicher als Leser, die einen reinen Bericht über den SW-Coast-Path erwarten.