Rezension

Deutsche Nachkriegsgeschichte

Der englische Liebhaber - Federica De Cesco

Der englische Liebhaber
von Federica de Cesco

Bewertet mit 3 Sternen

"Ich möchte denjenigen erleben", hatte Herr Kuropka gesagt, " der stark genug war, unter bestimmten Bedingungen stets moralisch einwandfrei zu handeln."
November 1945: Münster ist zerbombt und liegt in Schutt und Asche. Um sich, ihre Eltern und Schwester über Wasser zu halten, nimmt die junge Anna einen Job als Dolmetscherin bei den Besatzern an und lernt dort den Briten Jeremy kennen. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen, aber ihnen ist klar, dass ihre Beziehung schwierig wird. Nicht nur, dass es eine Liaison zwischen einer Deutschen und einem Angehörigen der Besatzungsmacht verpönt ist, Jeremy ist auch verheiratet. Trotzdem entscheidet er sich für sie. Doch als Anna ihm mitteilen will, dass sie schwanger ist, ist er spurlos verschwunden und man verweigert ihr jegliche Auskunft.
Jeremy reagiert jahrelang auf keinen ihrer Briefe. Hat Anna sich wirklich so in ihm getäuscht....

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Eine Familiengeschichte der Nachkriegszeit nach einer wahren Begebenheit.

In "Der englische Liebhaber" verarbeitet Federica de Cesco die Lebens- und Liebesgeschichte der Münsteranerin Anna Henke und Jeremy Frazer, einem Offizier der Besatzungsmacht und Spion des britischen Geheimdienstes.

Der Einstieg in die Geschichte hat mich regelrecht gefangengenommen. Er beginnt in der Gegenwart und man spürt die Spannungen und den riesigen Gefühlsgraben zwischen Mütter und Tochter. Nach dem Tod von Anna beginnt Charlotte zögernd deren Tagebücher zu lesen und diese erzählen die komplette Geschichte von Anna und Jeremy

Seit ich "Silbermuschel" gelesen habe, bin ich ein riesiger Fan von Federica de Cesco, sie schafft es immer wieder gewaltige Emotionen zu transportieren und viele ihrer Romane verbinden die Gegenwart mit der Geschichte der Vorfahren. Deswegen habe ich mich unheimlich auf den neuen Roman gefreut, der sogar in meiner unmittelbaren Umgebung spielt. Doch diesmal konnten mich die Charaktere nicht komplett überzeugen.

Der Schreibstil ist gewohnt bildhaft und flüssig. Er nimmt einen mit in den bitterkalten, entbehrungsreichen Winter 1945. Dem Leser ist nicht nur das zerbombte Münster präsent, sondern man spürt auch die klirrende Kälte und die Not der Menschen.
Was ich allerdings nicht wirklich gespürt habe, waren die Emotionen.

Anna, mit ihrer kühlen, distanzierten Art, war mir noch am nächsten, am authentischsten und sympathischsten. Ihre Tochter Charlotte, deren Schicksal ich durchaus nachfühlen konnte, ist auch im Alter noch immer kindisch verbockt und macht keine sichtbare Entwicklung durch. Mir hat sich Ihr Verhalten entzogen, diese Gefühlskälte und Ablehnung der Mutter, war für mich einfach nicht nachvollziehbar. Da haben mir tiefergreifende Erklärungen gefehlt. Die Mutter-Tochter Beziehung hätte definitiv mehr Tiefe gebraucht.
Jeremy wurde hingegen immer unsympathischer. Der Spion ohne Rückgrad, ein sehr schwacher Mensch. Schade, auch diesem Charakter hätte ein wenig mehr Tiefe nicht geschadet. 

Der Vergleich mit "Vom Winde verweht" ist schon etwas weit hergeholt und weckt falsche Erwartungen. Während das Epos fast schon vor Romantik trieft, fehlt sie hier vollständig. Diese bittere, lebenslange Liebesgeschichte ist eher sachlich und distanziert. 

Fazit: Eine Geschichte der deutschen Nachkriegszeit über Familie, Besatzungskinder, vaterlos aufwachsen und dem Verlust der großen Liebe. Es geht um grenzenloses Vertrauen und das Verhältnis von  Mutter und Tochter. Eine tolle Geschichte, mit Charakteren, denen ich mir mehr Tiefe gewünscht hätte.
Aber auf jeden Fall lesenswert.