Rezension

Deutsche Zeitgeschichte in persönlichem Drama verpackt

Grenzgänger - Mechtild Borrmann

Grenzgänger
von Mechtild Borrmann

Bewertet mit 4 Sternen

Wenn die Familie verloren geht

„Was hast du getan? Das war das Gewicht, das mit einer solchen Wucht auf ihrer inneren Waage aufschlug, dass es das angesparte Referenzgewicht endgültig aushebelte.“

 

Inhalt

 

Im Jahre 1970 muss Henni Bernhard einen Prozess über sich ergehen lassen, in dem sie der Tötungsdelikte an ihrem Vater und einer Schwester aus dem Kinderheim bezichtigt wird. Ihr beharrliches Schweigen spricht leider nicht für ihre Unschuld, ebenso wenig wie das fehlende Alibi. Nur ihr Mann und die Freundin aus Jugendtagen Elsa Brennecke sind davon überzeugt, dass Henni keine Schuld trifft. Stück für Stück legen sie Teile der Wahrheit frei, befassen sich mit den reellen Bedrängnissen der Vergangenheit und decken verjährte Untaten auf, doch Recht und Gerechtigkeit sind vor dem Gesetz verschiedenen Begriffe …

 

Meinung

 

Voller Vorfreude habe ich mir den aktuellen Roman der deutschen Autorin Mechtild Borrmann zugelegt, die mich bereits mit ihrem historischen Kriminalroman „Trümmerkind“ von ihrem schriftstellerischen Können überzeugt hat. Auch in „Grenzgänger“ greift sie auf tatsächliche Begebenheiten aus der jüngeren Deutschen Geschichte zurück, die menschenverachtende Erziehungsmethoden in Kinderheimen thematisieren. Auf hoch interessante Art und Weise kombiniert sie einen bewegenden persönlichen Erfahrungsbericht mit fiktiven Elementen, die dennoch sehr nah an schockierenden Wahrheiten bleiben.

 

Ungewöhnlich ist jedoch die verwendete Erzählperspektive, die diverse Personen als Beobachter und Betroffene gleichermaßen auftreten lässt. Einerseits entsteht dadurch eine bunte Vielfalt, die den echten Vorbildern der Geschichte gerecht wird, andererseits hat mir diese Interaktion nicht 100 prozentig gefallen. Henni Bernhard, geborene Schöning, war für mich die leuchtende Protagonistin, deren Verhalten bewundernswert und unverständlich gleichermaßen war, doch sie kommt hier nicht ausreichend zu Wort. Die Innensicht dieser kämpferischen, jungen Frau bleibt etwas unbestimmt und ist für mich nicht flächendeckend greifbar, deshalb ziehe ich auch einen Bewertungspunkt ab.

 

Was die Erzählung allerdings bestens vermag, ist die zielgerichtete, intensive Auseinandersetzung zwischen Schicksalsergebenheit, Lebensmut, Widerstandskraft und menschlichen Verfehlungen. Dabei steht sowohl der Kampf um Gerechtigkeit als auch der Verlust der Unbeschwertheit im Zentrum der Story– manchmal überwiegt der Schmerz, dann wieder die Zuversicht aber immer die Liebe zur Wahrheit.

 

Fazit

 

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen historisch angelehnten Aufarbeitungsroman über die Zwänge und Notstände in Kinderheimen, über elterliches Unvermögen, fehlende Zuneigung und dramatische Ereignisse ohne direkte Schuldige. Für Betroffene eine emotionale Fundgrube, für Interessierte ein Stück Zeitgeschichte, für alle anderen ein perspektivenreiches Lesevergnügen. Frau Borrmann hat den Finger sehr genau auf dem Herzen ihrer Erzählungen und das gefällt mir ausgesprochen gut, weitere Romane der Autorin sind von mir geplant.