Rezension

Deutschland 1938 - Eine Geschichte gegen das Vergessen

Mehr als tausend Worte - Lilli Beck

Mehr als tausend Worte
von Lilli Beck

Bewertet mit 3 Sternen

** Ich kenne keine Moral mehr, die können sich nur Menschen leisten, die ohne Angst leben, denen es erlaubt ist, an ein Morgen zu denken und ihre Zukunft zu planen. Für mich zählt nur das Hier und Jetzt, allein der Augenblick. **
Berlin 1938: Die 17-jährige Aliza lebt mit ihren Eltern, Großeltern und dem Bruder in einem Mehrfamilienhaus in Berlin. Das Haus gehört der Familie und beherbergt nicht nur Mietparteien, sondern auch Vater Samuels Arztpraxis. Doch die Zeiten sind unruhig und die politische Lage spitzt sich, grade für Juden, immer mehr zu. 
Irgendwann ist der Zeitpunkt verpasst um noch mit der Familie das Land zu verlasen, allein für Aliza gibt es die Möglichkeit mit dem Kindertransport nach England zu reisen. Doch dafür muss sie ihre große Liebe und Verlobten Fabian zurücklassen, der grade seinen Einberufungsbefehl erhalten hat. Kann es überhaupt ein Wiedersehen geben? 
Eine sehr interessante Thematik, die Lilli Beck da aufgreift; nämlich die Sicht einer jüdischen Jugendlichen, die während des Krieges nach England geschickt wird. Nur leider ist es auch die größte Schwachstelle des Buches. 
Ich fand den Beginn sehr stark und unheimlich authentisch. Das Leben einer jüdischen Arztfamilie mit einem Blockwart als Mieter im Haus, dem man schon so manches Mal aus der Patsche geholfen hat, von dem man aber auch plötzlich nicht mehr ganz sicher weiß, auf welcher Seite er steht. Die Charaktere sind sehr stark, vielschichtig und überzeugend; die damalige Zeit, Situation und Begebenheiten akribisch recherchiert und Lilli Beck wartet mit vielen interessanten Details auf. Und auch emotional hat es mich sehr berührt. 
Doch mit der Verschickung nach England hat sich vieles für mich geändert. Plötzlich war Aliza die alleinige Hauptfigur, mit deren selbstbezogenen, teilweise schon beinahe unsympathischen Art, ich gar nicht klarkam. Es ging fast ausschließlich um ihre Sehnsucht nach Fabian und ihren Träume von Fabian. Die Familie rückte vollständig in den Hintergrund. Es gab Jahre, da gab es grade mal eine kurze Szene aus Berlin. 
Das hat mich enttäuscht, denn dadurch driftet eine recht authentische Geschichte über eine jüdische Arztfamilie im Berlin der Nazizeit, nach gut 120 Seiten, in eine ziemlich oberflächliche und für mich auch in großen Teilen überaus konstruierte Liebesgeschichte ab, die mich weder mitgerissen noch emotional berührt hat.
Fazit: Es gibt sehr viele positive Stimmen zu diesem Roman und auch mich hat er zu Beginn wirklich gecatched, doch durch die Verlagerung des Handlungsortes und Konzentration auf nur eine Person, konnte er das anfängliche Niveau nicht halten. Trotzdem ein lesenswertes Buch mit einem angenehmen Schreibstil.