Rezension

Die Abnabelung aus der alten Welt

Die Enkelin -

Die Enkelin
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 5 Sternen

In Bernhard Schlinks Roman „Die Enkelin“ geht es zunächst um einen Todesfall. Birgit, die Ehefrau des Buchhändlers Kaspar, stirbt plötzlich und unerwartet. Möglicherweise hat sie auch nachgeholfen, diese genauere Interpretation wird dem Leser überlassen. Der Fund der toten Ehefrau gestaltet sich schon ein wenig gruselig, so möchte wohl niemand seine bessere Hälfte vorfinden. Auch unerwartet sind die Inhalte von Birgits hinterlassenen Aufzeichnungen, die eigentlich zum Roman anwachsen sollten. Es gab sogar schon einen interessierten Verleger. Kaspar entdeckt also seit Birgits Tod täglich Neues und Unerwartetes und muss sich erst einmal damit arrangieren. Aus Birgits Notizen geht hervor, dass sie zur Zeit ihres Kennenlernens sogar schwanger war und später eine Tochter geboren hat. Der Freundin und Geburtshelferin wurde von Birgit auferlegt, das frisch geborene Mädchen gleich wegzugeben. Kaspar hatte von alledem nichts bemerkt und auch keinen Verdacht in irgendeiner Beziehung. Kaspar erzählt später von Birgit: „Sie hat ihren Ort in der Welt nicht gefunden.“ Seite 229.

Kaspar geht nun auf die Suche und findet die Tochter, Svenja, deren Ehemann und die „Enkelin“. Mit vielen Demütigungen, auch derben finanziellen Zugeständnissen erreicht der nun einsame Mann gelegentliche Besuche von Sigrun, der Enkelin.

Svenja, Birgits Tochter, die ihre Mutter nie kennenlernen durfte, sagt zu Kaspar: „Wir werden die neue Welt nicht erleben. Wir können nur für sie kämpfen. Aber sie wird kommen.“ (Seite 256) Das mutet fast so an, als spräche sie über unsere Gegenwart.

Sigrun, die Heranwachsende, geht in diesem Roman auf ihre ganz persönliche Heldenreise. Und Kaspar, der Stiefgroßvater, gibt Sigrun Hilfestellung dabei. Wie man vielleicht merkt, beschäftigt mich gerade sehr das Thema „Herr der Ringe“. Und ähnlich wie Frodo oder zuvor Bilbo verlässt unsere Sigrun hier das Auenland, sprich die völkische (rechte) Siedlung. Kaspar, der Stiefgroßvater wirkt hier als Verstärker, indem er der Enkelin andere Möglichkeiten aufzeigt. Der Gartenzaun wird also gleichermaßen eingerissen und die Protagonistin erweitert ihr Erlebnisfeld. Die ihr aufgezwungenen Begrenzungen funktionieren nicht mehr. Neue Erlebniswelten werden entdeckt und je nach Möglichkeit tiefergehend erkundet. Es geht hier um wenige Jahre vom Teenager zum jungen Erwachsenen.

Fazit: Welche politische Richtung wir auch vertreten, wir müssen lernen, die andere Seite zu akzeptieren, uns nach Möglichkeit kooperativ zu verhalten. Also in etwa so, wie sich Kaspar Sigrun gegenüber verhält. Vielleicht ist es das, was wir aus dieser Lektüre mitnehmen können. 5 Sterne, verdiente Sterne.