Rezension

Die Augsburger Puppenkiste ist mehr …

Herzfaden - Thomas Hettche

Herzfaden
von Thomas Hettche

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die Romane von Thomas Hettche sind immer mehr als sie auf den ersten Blick scheinen. Trotzdem hat mir "Die Pfaueninsel" noch besser gefallen, es war geheimnisvoller, frecher, frivol bis zur Unverschämtheit - und dann wieder so genial. Dafür hat "Herzfaden" was surrealistisches.

Kurzmeinung: Hat mich nicht so geflasht wie Die Pfaueninsel, aber ihr werdet dem Urmel wiederbegegnen! Tas ist tsicher.
 

Der Roman „Herzfaden“ von Thomas Hettche, zur Zeit (10.9.2020) sich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises befindend und somit bereits als einer der besten deutschen Romane dieses Jahres ausgezeichnet, beschäftigt sich mit den Erfindern der Augsburger Puppenkiste.

 

Die Familie von Walter Oehmichen, wobei Walter in leiternder Position am Stadttheater Augsburg beschäftigt war, wurde wie die meisten deutschen Familien in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen. Es ist nicht ganz klar, wie weit Walter Oehmichen oder die Familie selbst die Nazi-Ideologie mittrugen und verinnerlicherten, ob sie einfache Mitläufer waren oder mehr dahinter stand, die Kinder waren jedenfalls in der Hitlerjugend und wurden dort und auch im Schulunterricht entsprechend gehirngewaschen. Andererseits setzte der Vater auch verbotene Stücke auf den Spielplan, ein wenig getarnt, unter falscher Flagge, aber durchaus erkennbar. Widerstandskämpfer aber waren sie alle nicht. 

 

Die jüngere Tochter Hannelore erbt vom Vater die Liebe zur Schnitzkunst und zum Puppentheater und hilft ihm in der Nachkriegszeit tatkräftig, das kleine Theater aufzubauen. Als das Fernsehen in seinen Kinderschuhen noch, auf die Marionettenspieler und seine Geschichten aufmerksam werden, stehen die Zeichen auf Grün: die Augsburger Puppenkiste wird berühmt und ist aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken. 

 

Kommentar: Thomas Hettche schreibt wie gewohnt in anmutiger Sprache und in einer zweifachen Erzählung diese Entwicklung auf. Dabei werden die Toten groß und die Lebenden klein. Warum ist das so? fragt sich der Leser. Und warum hat Hatü denn Angst gehabt vor dem Kasperl mit der großen Nase?

 

Wie auch immer: man entdeckt im Roman „Herzfaden“ den Herzfaden, das ist der Faden, den die Puppen gar nicht haben, denn er ist unsichtbar. Und man entdeckt die Freunde der Kindheit wieder und ihren ernsten Hintergrund. Einen Schuss Surrealismus, wie es gerade modern ist, hat der Autor mit den Szenen auf dem Dachboden mit eingegossen. Hat dieser Schluck Surrealismus einen tieferen Sinn? 

 

Die Metaebene des Romans ist mehr angedeutet als ausgeführt, aber sie ist da. Ausgburger Puppenkiste und Zweiter Weltkrieg sind zeitgleich, das hat Auswirkungen auf den Roman und auf das Leben. Die Augsburger Puppenkiste ist gleichzeitig Märchen, Hoffnung und Auseinandersetzung. Gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart, wie der Autor schreibt.

 

Fazit: Die Augsburger Puppenkiste, wiederauferstanden nach einer Bombennacht in Augsburg, hat eine Geschichte, weil sie Teil der Geschichte ist.

 

Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020
Kategorie: Anspruchsvoller Roman
Verlag: Kiwi, 2020

Kommentare

Emswashed kommentierte am 10. September 2020 um 17:16

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf dieses Buch freue!