Rezension

Die Diva und der Junge

Gretchen - Einzlkind

Gretchen
von Einzlkind

Gretchen Morgenthau ist eine Legende des Theaters. Zum Unglück ihrer Mitmenschen eine lebende. Die Karriere als Intendantin hat sie beendet, den Gottesstatus aber behalten. Ihr Leben in London könnte kaum großartiger sein. Doch dann geschieht das Undenkbare. Wegen einer Unachtsamkeit wird Gretchen zu vier Wochen auf einer Vulkaninsel bei Island verurteilt. Sie soll mit den Einheimischen ein Theaterstück aufführen. Keine gute Idee.

Gretchen, Ex-Intendantin, Ex-Regisseurin, akzeptiert nur einen Menschen auf der Welt: sich selbst. Die schlimmsten Entscheidungen des Tages muss sie beim Ankleiden und Schminken treffen: Passt Armani-Bluse zu St. Laurent-Kostüm, Joop-Handtasche zum Vuitton-Schuh? Ansonsten: Wer ist die Schönste (auch noch mit 70+)? Gretchen. Wer hat die spektakulärste Theatergeschichte geschrieben? Gretchen. Wer könnte noch alles stemmen wie mit 30, wenn er wollte? Gretchen.

Klar, dass es kein Problem für sie ist, im Vollrausch Auto zu fahren. Und wenn die Polizisten das anders sehen, muss Gretchen sich zur Wehr setzen. Notfalls mit Gewalt.

Kjell lebt auf Gwynfaer, einem der kleinsten Inselchen der an kleinen Inselchen nicht armen Hebriden. Das Schicksal macht ihn zu Gretchens ständigem Begleiter, Fremdenführer, Koch, Bote, Haushaltshilfe, kurz: Mädchen für alles und Abfangjäger ihrer Stimmungen. Er ist ein lieber, netter Junge, dessen Zukunft in den Sternen steht, der von Mädchen träumt und nicht weiß, ob er auf der Insel bleiben wird.

Leider erscheint Kjell gegenüber Gretchen ziemlich blass, wodurch Potenzial der Handlung verschenkt wird. Hier hätte der Autor sich mit einem zweiten starken Charakter wesentlich mehr literarische Möglichkeiten eröffnet.

Gretchen bekommt die Auflage, mit den Inselbewohnern ein Theaterstück einzustudieren, wozu sie keine Lust hat, weil sie normalerweise ein anderes Niveau bedient. Tule, Chef der Laienspielgruppe, nutzt das Theater, um politische Botschaften aus der linken Ecke zu verkünden. Gretchen braucht opulente Kostüme, Tule das Minimalistische, Gretchen liebt Klassiker, Tule entstaubt sie, Gretchen schwelgt in üppigen Bühnenbildern, Tule verteilt Kunstblut auf den Bohlen. Trotzdem einigt man sich. Nicht im Sinne der Justiz, aber in Gretchens Sinn.

Klingt laut und chaotisch und ist auch so. Ist fürchterlich übertrieben, muss aber so sein.

Was nervt: Gretchens Designer-Garderobe, die bei jedem Wechsel der Kleidung mit Name und Farbe genauestens vorgestellt wird.

Was sehr gefällt: Einzlkinds Wortschöpfungen, die nicht aufgesetzt oder künstlich gebastelt klingen, sondern so passend, als stünden sie seit Jahren im Duden: Wenn sich Gretchen nach dem Aufwachen wie „neugestorben“ fühlt (nach mehr als drei Flaschen Selbstgebranntem), wenn ein Haus von „knuspernder Lieblichkeit“ befallen ist, in einem Chor dicke Frauen über den Heiland „gospeln“, ein Bootssteg „knarscht“, während das Boot „schlonkert“.

Mit diesem Ende hat sicher niemand gerechnet, aber es passt. Zu Gretchen und zum Buch.