Rezension

Die düstere Atmosphäre eines Pyrenäen-Tals

Monteperdido - Das Dorf der verschwundenen Mädchen - Agustín Martínez

Monteperdido - Das Dorf der verschwundenen Mädchen
von Agustín Martínez

Bewertet mit 5 Sternen

Die Freundinnen Ana und Lucia waren 11 Jahre alt, als sie mitten am Tag aus ihrem Dorf Monteperdido verschwanden. Im Leben ihrer Angehörigen hat sich das Unglück seitdem wie ein Ölfleck ausgebreitet. Álvaros und Raquels Ehe zerbrach an der Tat; Joaquín Castáns würde über Leichen gehen, um an der Polizei vorbei selbst zu ermitteln. In dem abgelegenen Tal der spanischen Hochpyrenäen kennt man sich; die Familien der Mädchen leben in nebeneinanderliegenden Doppelhaushälften.

Fünf Jahre später verunglückt ein Autofahrer tödlich in einer Schlucht. Aus seinem Fahrzeug kriecht schwer verletzt Ana, eines der Entführungsopfer. Víctor Gamero, dem Leiter der örtlichen Polizeiwache, werden zwei Kriminalbeamte aus Madrid zur Seite gestellt, Sara Campos und Santiago Baín. Das Verhältnis im Team ist gespannt, niemand traut dem anderen. Gamero hält nichts von den Städtern; Santiago schüttelt beim Aktenstudium den Kopf über die schlampigen Ermittlungen zur damaligen Entführung. Während die schwerverletzte Ana im Krankenhaus behandelt wird, beginnt ein Wettlauf um die Rettung von Lucia. Irgendwo in dieser rauen Landschaft muss der Täter sie noch immer gefangen halten. In den Wäldern wird gejagt, Touristen sind im Gebirge unterwegs. Wer hier jahrelang Gefangene versorgt, kann doch nicht unbeobachtet geblieben sein. Jeder Schritt der Ermittler kann ein Schritt in die falsche Richtung sein. Der Druck auf alle ist beklemmend deutlich zu spüren. Dass die geschwächte Ana ohne ihre Mutter von männlichen Kriminalpolizisten vernommen wird, befremdet. Sara Campos ist sich sicher, dass Ana mehr weiß, als sie sagt. Um Lucia zu schützen? Um den Täter zu schützen? Einige im Tal haben Gründe, jemandem eins auszuwischen. Kaum jemand, der keine illegalen Geschäfte macht oder auf andere sonderbar wirkt. Die Fäden der Beziehungen bilden ein dichtes Netz, das die Madrider Ermittler ohne Hilfe Einheimischer nicht durchdringen können. „Hier spricht sich alles rum, und trotzdem weiß keiner was“, bringt Sara die Lage auf den Punkt. Nur wem können die Madrider Ermittler trauen, wer ist Opfer und wer ein geschickter Manipulator?

Das Tal von Monteperdido wird im Winter nur selten von der Sonne erreicht. Diese raue Landschaft mit sintflutartigen Regenfällen, die nicht selten Todesopfer fordern, sorgen in Agustín Martínez‘ Kriminalroman für eine düstere Atmosphäre. Das Setting des abgelegenen Tales vor dräuenden Unwettern lässt eine antike Tragödie vermuten. Wenn in einem Krimi Kinder Opfer von Gewalttaten werden, lasse ich mich darauf ungern ein. Doch die Menschen an diesem Ort haben von Beginn an meine Neugier geweckt. Ob ein Tierarzt als Hobbyautor, Leute, die vom Tourismus leben müssen, oder die Angehörigen der Mädchen – Martínez zeichnet differenzierte Figuren und trifft Zwischentöne. Zum Ende hätten mir einige Verzögerungsmomente weniger genügt; dennoch vor gewaltiger Kulisse ein beeindruckender Erstlingsroman.