Rezension

Die Eismacher

Die Eismacher
von Ernest van der Kwast

Bewertet mit 3 Sternen

Der Roman "Die Eismacher" von Ernest van der Kwast erschien in HC-Ausgabe 2016 im btb-Verlag. Das Cover zeigt auf himmelblauem Hintergrund eine Eiswaffel mit bunten Eisbällchen, die auf die Handwerkskunst der Eisherstellung und -zubereitung hinweist in Verbindung mit dem Romantitel. Cover und Klappentext weckten meine Neugierde, diesen Roman zu lesen, ich stellte jedoch mehr und mehr fest, dass meine Erwartungen andere waren und sich der Klappentext nicht mit dem Inhalt des Romans in allen Punkten deckt.

Meine Meinung und Leseeindrücke:

Ich verzichte an dieser Stelle auf den Klappentext, sondern beginne gleich mit meinen Leseeindrücken, die ich während der Leserunde in einem Bücherforum gewinnen konnte: 
Der Schreibstil des Autors ist eingängig zu lesen, die Anfänge der traditionellen Eisherstellung und das Wissen um die Verarbeitung und den Transport (hier exemplarisch dargestellt an der Eismacherfamilie Talamini aus dem Cadore-Tal, Dolomiten) fand ich sehr interessant und informativ beschrieben. Der Roman umfasst 5 Generationen dieser Familie, wobei es etliche Zeitsprünge und dadurch auch Handlungssprünge gibt. Bei der Darstellung weiblicher Protagonisten, z.B. Maria Grazia, schien mir die Entwicklung dieser Personen aus sehr männlicher Sicht beschrieben, vor allem, wenn es um deren Sexualität ging. Der Hauptprotagonist Giovanni, wie sein Bruder Luca ein Sohn des Eismachers Guiseppe, "Beppi" Talamini's, schlägt völlig aus der Art, da er sich zu den Klängen und der Macht der Worte sehr viel mehr hingezogen fühlt als dazu, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, der von morgens bis abends in der Saison in der Eisherstellung seines kleinen Eiscafés in Rotterdam das Familieneinkommen sichert und sich "wie alle Eismacher zu Tode schuftet". Er entfernt sich, der Poesie zugewandt und der Lyrik, von seiner Familie und wird mit schlechtem Gewissen kein Eismacher. Dies steht im Gegensatz zum Klappentext, da er dort "das Lesen genau so liebt wie das Eis". Dieser Gegensatz zieht sich durch den kompletten Roman. 
Das Familienleben der Talamini's, besonders das von Giovanni, ist gekennzeichnet von großen Zeit- und Handlungssprüngen, die Lücken und auch lose Enden lassen, wo man sich mehr Informationen gewünscht hätte. Der Vater wird einem Demenztest unterzogen, da er sich im Alter in eine Hammerwerferin verliebt, für die er in seinem geliebten Keller herzförmige Metall'hammer' herstellt, in dieser Passage und in den Dialogen mit dem Vater fand sich für mich eine Prise Humor, ansonsten war der Roman eher von Melancholie und auch zuweilen von Schwermut angereichert, die ich so nicht erwartet hätte.
Gefallen hat mir z.B. die Beschreibung der Schneekristalle und ihre bezaubernde Schönheit oder die Zeit, wenn die Familien nach Cadore zurückfuhren, um in der Heimat zu überwintern: Hier hätte ich mir mehr und ausführlichere Informationen zu dem Alltagsleben 'ausserhalb der Saison' gewünscht ("die Sommer der Eismacher").

Viel Raum im Roman erhält die Prosa & Lyrik; allerdings gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass sich Giovanni's Liebe zur Literatur und der Dichtkunst und das Leben von 'Eismachern' ziemlich ausschließen... Eine Stigmatisierung sah ich in der Beschreibung "meist älterer Frauen", die gerne zu Lesungen gehen. Die Auflistung rein äußerlicher und weiterer (Bildungs)-merkmale fand ich etwas befremdlich, da sie a)unwesentlich sind und b)nichts zur eigentlichen Geschichte beitragen konnten, ausser eben, zu stigmatisieren.
Der Seitenhieb auf die Verlagswelt und deren Erfolgsdruck und die Auswüchse in den PR-Abteilungen hingegen fand ich durchaus gelungen, da ich mir dieses Bild als realistisch vorstellen kann.

Giovanni Tamini, der aus der Art geschlagene Poet, grenzt sich hart von seiner Familie ab, besonders von seinem Bruder Luca (beide reden über Jahre kaum miteinander).
 
Zitat: "Seine Welt war das Eiscafé, meine begann dort, wo die Terrasse aufhörte" (S. 180)

Dies symbolisiert vermutlich das, was fehlte (dem Roman, den Eismacher-Familien?): Das gegenseitige Verständnis für die Welt des jeweils anderen...., die Arbeit im Eiscafé wird realistisch beschrieben, bleibt aber immer kühl, nüchtern, distanziert und emotionslos (bis auf das Verzehren von Eis, dies wird sinnlich dargestellt) - während Giovanni's Welt der Poesie und der World-Poetry-Festivals, deren Direktor er später wird, detaillierter und wortreicher Form annimmt, als es den Leser (manche jedenfalls) interessiert oder zur eigentlichen Geschichte beiträgt; hier liegt jedoch eher seine Leidenschaft (ebenso wie bei zahlreichen jungen Frauen ohne die Absicht, wie sein Bruder Luca eine Ehe eingehen zu wollen).
Der skurrile, etwas aberwitzig daherkommende Wunsch Luca's, der das Eiscafé nun führt und Sophia, die Jugendliebe beider Brüder, geheiratet hat, an seinen Bruder Giovanni peppt die Geschichte gewaltig auf, ändert aber lange Zeit gar nichts an den gestörten Kommunikationsstrukturen der Tamini-Brüder... Letztendlich altern die Eismacher-Familien und viele kehren überhaupt nicht mehr zurück ins Cadore-Tal, sondern bleiben in den Niederlanden oder Deutschland, wo sie ihre Eiscafés sommers betreiben...
Vieles wird angedeutet, der Faden jedoch nicht zu Ende gesponnen; in der Schlussszene kehrt der Urgroßvater nach 2,5 Jahren aus Amerika zurück zu seiner Maria Grazia....

Fazit:

Das luftige Cover mit dem sommerlichen Eis hat mit der oft melancholischen Geschichte zwischen den Buchdeckeln wenig gemein: Tradierte Werte und Vorstellungen in der Eismacherfamilie liegen sicher weit über Werten wie Offenheit oder Toleranz, Verständnis für die Entscheidung Giovannis; dieser jedoch grenzt sich ebenso wenig wertschätzend seiner Familie gegenüber ab. Die Einblicke in das traditionelle Leben der Eismacher fand ich interessant, diese kamen aber in nicht ausgereifter Form im Roman zum Tragen; mit der Liebesgeschichte und der 'ménage à trois' hatte ich so meine Schwierigkeiten (am ehesten verstehe ich noch Luca) und Herzenswärme (wie der Buchrückentext indiziert, habe ich leider nicht empfinden können: Meist fehlte etwas, was nicht ausgesprochen, klar formuliert wurde. Auch waren besonders die weiblichen Figuren im Roman (die Mutter von Luca und Giovanni, Sophia, Maria Grazia) sehr blass erschienen - viele Facetten fehlten hier.
Eine schöne Romanidee, die literarisch einfühlsamer hätte umgesetzt werden können. Meine Erwartungen wurden nicht erfüllt, dafür fehlte es inhaltlich an Tiefe (der Handlung UND der Personen); die vielen Zeit- und Handlungssprünge verwirrten und störten zusätzlich - schade!