Rezension

Die Erfahrung des Augenblicks

Wie wir älter werden - Ruth Schweikert

Wie wir älter werden
von Ruth Schweikert

Bewertet mit 4 Sternen

~~Rückentext
Wie spät ist es? Es ist der 30. Dezember 2013. Draußen liegt Schnee. Drinnen bereitet der 87-jährige Jacques wie jeden Tag das Mittagessen für sich und seine Frau Friederike vor. Neun Jahre lang lebte er zwischendurch mit Helena zusammen, seiner Jugendliebe; dann kehrte er in seine Ehe zurück. Jacques und Friederike, Hanna und ihr Mann Emil sind untrennbar miteinander verbunden durch den Pakt des Schweigens, den sie Mitter der Sechzigerjahre geschlossen haben. Auch im Leben ihrer Kinder und Enkel gibt es immer wieder Abschiede und Aufbrüche; Katrin und Iris sind längst erwachsen, aber weiterhin geprägt von dem, was sie als Kinder erfahren und wahrgenommen haben.

 

Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur. Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, daß man übermorgen, wenn man das Gegenteil denkt klüger sei. (…) Wir können nur, indem wir den Zickzack unserer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennenlernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von einem einzelnen Augenblick aus-
                                                                                                                                                                                                              Max Frisch, Tagebuch 1946-1949

Jacques und Friederike sind vor kurzem in ein Pflegeheim gezogen. Es war ihnen nicht mehr möglich in ihrem Haus zu leben. Friederike ist dies leichter gefallen, denn es hat den Anschein, dass sie mit dem „Verlust“ besser zurecht kommt, da sie schon so viel verloren hat … ihre Stimme, ihre Freude … Die beiden haben drei Kinder miteinander. Katrin und zwei Jungen. Schon im Alter von vier hat Katrin ihre Mutter oft gefragt, warum der Vater so selten zu Hause sei. Doch die Mutter schwieg. Denn Friederike und Jacques hatten einen Pakt mit Hanna und ihrem Mann Emil. Neun Jahre lang hatten Jacques und Hanna eine Affäre. Sie trafen sich regelmäßig Montags um 18 Uhr. Aus dieser Affäre entstammen zwei weiter Kinder … Miriam und Iris. Aus diesem „Pakt des lebenslangen Schweigens zum Schutze der Kinder“ entspinnt sich ein Geflecht aus Lug und Betrug. Trotz des Paktes erfahren die Kinder im Erwachsenenalter voneinander.

Es ist nicht möglich, das eigene Leben von seinem Ende her zu denken, solange man mitten drin steht, und es ist nicht möglich, das Leben eines Toten nicht a u c h von seinem Ende her zu denken; sein Tod als Punkt im Koordinatensystem von Raum und Zeit, den die Überlebenden ins Visier nehmen, um auf sein Leben zurückzuschauen, es nachträglich in Besitz zu nehmen, als hätte e ihnen schon immer gehört, von Anfang an.“ (Seite 55)

Ich muss zugeben, die Komplexität der Familienverhältnisse hat mich auf den ersten Seiten ziemlich beansprucht, dass ich kaum den Inhalt verarbeiten konnte. Immer und immer wieder musste ich zurück blättern, um mich zu orientieren, wer wer ist. Doch dann habe ich mir eine Liste gemacht, und fortan konnte ich dem Roman besser folgen. Abgesehen von den vielen Personen, die vorkommen, verstrickt sich die Autorin in viele kleine Erzählungen. Sie fängt mit einer Geschichte an, und kommt dann vom Hölzchen aufs Stöckchen. Manchmal sind es einfach nur Momentaufnahmen eines Augenblicks. Sie wechselt zwischen Raum und Zeit, wie es gerade passt und so ganz nebenbei, so habe ich den Eindruck, flechtet sie Zeitgeschichte mit ein. Zum Beispiel Olympia 1972 oder das Attentat in Utoya 2011. Dass erforder viel Aufmerksamkeit vom Leser. Doch das macht die Geschichte und was dahinter steckt gerade erst einmal spannend. Dieses ganze Geflecht aus Lügen, Intrigen und Geheimnissen machen dieses Buch zu etwas besonderem. Je weiter ich in diese Geschichte eintauche, desto intensiver wird sie.

Wenn man jederzeit auf unserer Stirne lesen könnte, wo unsere Gedanken sind – kein Mensch möchte mit uns die Gegenwart teilen. (…) Aber bezog sich dieser Satz nicht viel eher auf die Erleichterung darüber, dass Menschen einander eben nicht auf diese Weise ausgeliefert waren? Die totale Transparenz als Schreckensvision, die sich schon beinahe verwirklicht hatte im Zeitalter der Suchmaschinen, die zwar nicht die Gedanken direkt zu lesen vermochten, aber jedes Wort und jeden Mausklick registrierten und auswerteten, die aus den Gedanken der User erwuchsen, während sie sich allein wähnten und unbeobachtet vor dem Bildschirm, der ihnen blitzschnell den Zugang eröffnet zu allem und jedem, der im World Wide Web verfügbar war.““ (Seite 93)

Dieses Buch hat es echt in sich, mit jeder Seite mehr wird es intensiver und lässt nicht mehr los. Mir hat es gefallen, weil es so viele Themen anspricht  … Leidenschaftliche Liebe und Trennung … Krankheit und Tod ... Jugend und Aufbruch … die Zeit des Wechsels … Krieg und Gewalt … Vergänglichkeit …

Wer sich also von der Komplexität des Buches und der Familienverhältnisse nicht erschrecken lässt, wird wundervolle Lesestunden haben.

Was immer du da draußen am Himmel siehst, den Mond oder eine Sternschnuppe, ist in Wirklichkeit schon wieder ein bisschen anders; es ist nicht möglich, die Gegenwart zu sehen; wohin du auch schaust, du siehst immer die Vergangenheit, selbst wenn du auf meinem Schoß sitzt und mir in die Augen schaust; und was du auch hörst – es ist schon vorbei.“ (Seite 114)