Rezension

Die Europäische Union braucht einen Neubeginn - ein "kritisches" Essay

Endspiel Europa -

Endspiel Europa
von Ulrike Guérot

Die Europäische Union hat in weiten Teilen ihrer Historie eine durchaus beachtliche Erfolgsbilanz aufzuweisen. Seit einigen Jahren gerät diese Gemeinschaft jedoch in zunehmend schwieriges Fahrwasser. Eine stetig wachsende Zahl an Mitgliedsstaaten mit teilweise recht unterschiedlichen Interessen einerseits, der Austritt Großbritanniens (Brexit) als eine der führenden Nationen des Kontinents andererseits, zudem weltweite und kontinentale Krisen, stellen die Gemeinschaft zunehmend vor bedeutsame, ja existenzielle Herausforderungen.
Wie dem zu begegnen ist könnte man sich fragen. Die Autoren des vorliegenden Buches gehen einen Schritt darüber hinaus und erklären das politische Projekt Europa für gescheitert. Gleichwohl beschäftigen sie sich mit der Frage, wie diesem -oder besser: einer Neuauflage des Projekts- Leben eingehaucht werden kann.

Inhaltlich befassen sich die Autoren mit dem Werden und Wachsen der Gemeinschaft und dem ihr innewohnenden Gemeinschaftsgedanken, insbesondere für die Zeit nach der "Wende" im Jahre 1989. Die künftigen Ziele der Union und deren konsequente Umsetzung in der Praxis durch "große Europäer", also Politiker, die an den Hebeln der Macht saßen bzw. unmittelbaren Zugang hierzu hatten, bilden den Kern der Betrachtungen im ersten Teil des Buches.
Finanzkrisen, politisches "Geplänkel" in den eigenen Reihen, Fehler im Umgang mit diesen internen Problemen, aber auch Versäumnisse im Umgang mit externen Partnern und Mächten werden besprochen. Die Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung, deren Zustandekommen, die Verdienste der Sowjetunion unter der Führung Michail Gorbatschows, sein Verständnis und seine Hoffnungen auf eine beginnende Partnerschaft, auf ein "europäisches Haus von Lissabon bis Wladiwostok" (siehe S. 121), werden gewürdigt.
Die USA hatten nach Auffassung der Autoren von Anfang an andere Vorstellungen. Insgesamt spielt die Hinwendung der Mitgliedsstaaten der EU (kurz "des Westens") zur USA und deren Abwendung von Russland eine kritisch zu betrachtende Rolle.
Angedenk der Vielzahl von Krisen wird das Projekt in seiner derzeitigen Existenz als gescheitert betrachtet. Abschließende Gedanken über eine Neuauflage des Projekts, als selbstständige, politisch souveräne Größe in der Weltpolitik werden diskutiert.

"Ulrike Guérot und Hauke Ritz fordern ein Umdenken für ein eigenständiges Europa, das sich auf seine sozial-, kultur- und friedenspolitischen Errungenschaften besinnt und gegenüber den USA und Russland als gleichwertiger Partner auftritt." (Zitat entnommen dem Umschlagtext des Buches). Ein schöner Gedanke, der in seiner Umsetzung konsequenter Arbeit bedarf und genau diese Initiative verdient! Eine Leitidee, der ich mich in vollem Umfang anschließen möchte.
Das war es dann aber auch mit den Gemeinsamkeiten!
Der im Buch beschriebene Weg zu einer neuen, und besseren Gemeinschaft, betrachte ich hingegen kritisch. Warum? 
Gut und Böse sind schnell ausgemacht: der westlichen Staatenwelt, auch den Mitgliedsstaaten der EU wird aus Sicht von Guérot und Ritz der Fehler vorgehalten, sich der Hegemonie der USA bedingungslos unterworfen und sich zunehmend von Russland abgewendet zu haben.
Man kann durchaus so denken und dies ohne weiteres vertreten. Mir ist in der Tat kein renommierter Experte geläufig, der in Abrede stellen würde, dass die westlichen Staaten nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems gravierende politische Fehler begangen haben und so anstelle einer angestrebten Ordnung im Sinne liberaler Demokratien, eine neue "Weltunordnung" (vgl. Peter R. Neumann und Carlo Masala) geschaffen haben.
Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, die USA habe an allem Übel dieser Welt die (alleinige) Schuld und insbesondere die Europäer hätten sich bedingungslos den USA an den Hals geworfen und Russland in dessen Bestreben nach Partnerschaft am langen Arm verhungern lassen, erscheint mir dann allerdings doch weit hergeholt und wird im vorliegenden Buch argumentativ einseitig und unausgewogen dargelegt und unzureichend belegt - weil eben ein Diskurs, die Auseinandersetzung mit dem Für und Wider schlicht und ergreifend nicht stattfindet. All zu oft verfangen sich die Autoren in einseitiger Rhetorik; gleichermaßen durchschaubar und anregend zugleich. Möchte man sich als LeserIn nicht nur eine Seite der Medaille betrachten, bietet sich die Chance, in weiteren Quellen Informationen zu sammeln und zu eigenen Sichtweisen zu gelangen.
Eine Reihe von Thesen und Aussagen allerdings empfinde ich als -vorsichtig formuliert- abenteuerlich. Folgendes Beispiel sei stellvertretend für viele weitere aufgeführt (S. 131f. - Abschnitt: Die Eskalation beginnt): "Zu den häufigsten semantischen Setzungen seit Kriegsbeginn zählt die Rede vom "russischen Überfall" oder dem "russischen Angriffskrieg" auf die Ukraine ...Damit wird insinuiert, dass sowohl die Ukraine, als auch der Westen überrascht worden seien ... Eine genaue Analyse der Vielzahl an militärischen Aktivitäten, die Dutzende NATO-Staaten, aber insbesondere Großbritannien, die USA und Kanada, seit 2014 in der Ukraine entfaltet haben, zeigt indes deutlich, dass dem nicht so war. Nüchtern betrachtet muss man sich wundern, dass die russische Regierung überhaupt so lange stillgehalten hat." 
Maßnahmen, die auch Biowaffenforschung und die Anhäufung kernwaffenfähigem, spaltbaren Materials beinhaltete, wurde von Seiten Russlands stillschweigend akzeptiert. 
Weiter heißt es: "Im Grunde genommen müsste die Frage, wer diesen Krieg wirklich begonnen hat, neu erforscht werden. Es geht eher um angelsächsische - nämlich amerikanische, britische und kanadische - Kriegsvorbereitungen gegen Russland, die zwar nicht in den Medien besprochen wurden, aber doch durch öffentliche Dokumente zugänglich waren und sind." Anmerkung: ein Hinweis auf entsprechende Quelle(n) erfolgt an dieser Stelle nicht.
Es folgt eine Auflistung zahlreicher militärischer Aktivitäten, insbesondere der NATO-Staaten auf ukrainischem Territorium und in weiteren Nachbarländern Russlands. Eine ähnlich detaillierte Auflistung der russischen Aktivitäten hingegen sucht man vergebens.
Mit diesem Auszug wollte ich verdeutlichen, warum ich einige Aussagen in diesem Buch als "atemberaubend" empfinde.
Mir ist klar geworden, sich die Hochschulleitung der Universität Bonn zwischenzeitlich distanziert hat, ohne Frau Guérot beim Namen zu nennen.