Rezension

Die Flucht – eine Reise ins Ungewisse

Liebten wir
von Nina Blazon

Bewertet mit 3.5 Sternen

Moira Vankanten hat tatsächlich ein Auge für andere Menschen. Ihr wird durch den Blick ins Kameraobjektiv offenbar, was die Menschen um sie herum zu verbergen versuchen. Auch sie hat ein bewegtes Schicksal, auch sie hat sich bisher noch niemandem offenbart. Sie scheint Menschen nicht sonderlich zu trauen, nicht mal denen in ihrem engeren Umfeld. Die Kamera ist zu ihrem Schutzschild geworden. Überall Geheimnisse, verborgene Tatsachen, Abgründe, Schweigen, falsches Spiel. Die Familienfeier ihres Freundes und die Ankunft eines Briefes bei Mo werden zu Schlüsselereignissen. Die darauf folgende Flucht mit ihrer einfach nicht abzuschüttelnden Begleiterin Aino, der Großmutter ihres Freundes Leon, wird für beide Frauen zur Bewährungsprobe. Die so grundverschiedenen Frauen sind aber vielleicht doch nicht so unterschiedlich, wie anfangs gedacht. Sie werden zu Weggefährten füreinander. Ihre Odyssee, ihr Zusammensein wird für beide nicht nur ein tiefes Eintauchen in die eigene Vergangenheit und in das Schicksal des anderen. Ihr Fliehen wird zu einem Ankommen; bei der Wahrheit und vor allem bei sich selbst. Die bisweilen sehr eindringlichen Beschreibungen der Ereignisse werden zu Bildern im Kopf des Lesers. Es gelingt der Autorin, bis auf einige langatmige Passagen, die leicht geschichtsträchtige Handlung in Bewegung zu halten. Ihr Voranschreiten erzeugt Interesse und Neugier. Die Charaktere der Protagonisten entfalten sich und werden dem Leser immer sympathischer. Man beginnt, sie wirklich zu verstehen. Bruchstücke werden zu einem Mosaik. Das endgültige Bild, das eigentliche Ziel deutet sich zwar an, wird aber erst allmählich immer deutlicher und erst ganz am Ende wirklich sichtbar. Vertrauen lernen, sich öffnen, sich beistehen; ein Wagnis. Menschen begegnen sich auf Umwegen, ihre Schicksale tangieren sich und werden untrennbar miteinander verwoben. Kann aus der unfreiwilligen Zwangsgemeinschaft eine tiefe und innige Freundschaft entstehen? Eine Geschichte, die zu Herzen geht. Lebhaft, grob, still, feindselig, sehnsüchtig. Alle Facetten und Spielarten der menschlichen Natur werden thematisiert oder zumindest angekratzt.