Rezension

Die Geburtsstunde der Kriminalistik

Der Wandermörder
von Douglas Starr

Bewertet mit 5 Sternen

»In diesem Klima der Hoffnung und der Furcht begannen Experten in verschiedenen Ländern, das Verbrechen wissenschaftlich zu erforschen. Wie die anderen großen Denker jener Zeit betrachteten sie Kriminalität nicht als Sünde oder Teufelswerk, sondern als wissenschaftliche Herausforderung.«

Frankreich, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Über Jahre hinweg zog der Serienmörder Joseph Vacher eine blutige Spur kreuz und quer durchs Land. Als man ihn endlich fasste, gestand er 11 Morde, man vermutet aber, dass mehr als 25 auf sein Konto gehen. Dass er letztlich überführt werden konnte, ist der Verdienst zweier Männer, des Ermittlungsrichters Émile Fourquet und des Gerichtsmediziners Dr. Alexandre Lacassagne, zweier Pioniere auf dem Gebiet der Forensik und Verbrechensbekämpfung.

 

Dieses Buch ist ein Sachbuch, kein Krimi oder Thriller. Was Aufbau und Behandlung der Themen angeht, folgt der Autor wissenschaftlichen Kriterien. Im Vorfeld hat er umfangreiche Recherche betrieben und zahlreiche Quellen ausgewertet, die er hier einfließen lässt. Alle Zitate und Dialoge stammen aus Briefen, Büchern, eidesstattlichen Erklärungen und Zeugenaussagen der Beteiligten oder aus zeitgenössischen journalistischen Quellen. Dazu kommen Berichte von „Irrenhäusern“, Ermittlern und Psychiatern, originale Tatortanalysen und Autopsieberichte.

 

Dem Leser bietet sich die Möglichkeit, die Anfänge der Gerichtsmedizin zu verfolgen, die Entwicklung erster erkennungsdienstlicher Tätigkeiten zu erleben. Da wurden akribisch Knochen ausgemessen, Merkmale zur Identifizierung ermittelt, Tabellen zur Entwicklung der Leichenstarre und Zeittafeln für Verwesungsprozesse erstellt. Ich war fasziniert von dem enormen Forschergeist, der hier hervortrat! Sicher, heutige Ermittler investieren auch viel Zeit und Mühe, aber die damaligen mussten erst mal zu der Erkenntnis gelangen, dass diese Arbeit überhaupt notwendig ist.

 

»Alle stummen Zeugen – der Ort, die Leiche, die Abdrücke – können sprechen, wenn man ihnen die richtigen Fragen stellt« (Lacassagne)

 

Nicht immer und überall kamen die neuen Methoden gut an. Frankreich zu dieser Zeit war fortschrittlich in den Städten, auf dem Land jedoch war der Aberglaube noch sehr verbreitet. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Dörfler glaubte, sein Vieh oder die Felder seien verwünscht worden. Leicht wurde da ein Schuldiger für einen Mord gesucht und gefunden, während der eigentliche Täter (hier Vacher) schon unterwegs war in eine andere Gegend des Landes, in der man ihn nicht kannte und in der er folglich sicher war. Eine Sicherheit, die Fourquet und Lacassagne schließlich zerstören konnten!

 

Die Verhältnisse im Land werden in all ihren Unterschieden gut herausgearbeitet, das war sehr interessant zu lesen. Natürlich waren sich die Forscher auch nicht alle einig, sie wendeten verschiedene Methoden an und verfolgten teils sogar konträre Denkansätze. Der bekannte Disput, ob jemand als Verbrecher geboren wurde oder ob er erst zu einem wurde bzw. gemacht wurde, ist ebenso Thema wie die Entwicklung neuer Verhörmethoden (Psychologie statt Druck) oder der Behandlung der Frage, wie man eine vorgetäuschte Geisteskrankheit erkennen kann.

 

Neben der theoretischen Darstellung werden all diese Punkte unter anderem am konkreten Fall Vacher gezeigt, hier ist man als Leser vom ersten Mord an bis zur Hinrichtung des Täters dabei. Viele Fotos und Abbildungen tragen zur Ergänzung und Veranschaulichung bei. Interessant fand ich auch, dass der Fall Vacher zu der Erkenntnis führte, wie wichtig eine überregionale Zusammenarbeit ist, eine Einsicht, die letztlich zur Gründung von Interpol führte.

 

Als eine Art Exkurs werden Vergleiche zu dem zeitgleich ermittelnden Sherlock Holmes gezogen. Er zitiert in seinen Fällen schon mal reale Ermittler, aber wie beurteilten diese wiederum die Romanfigur? Gab es so etwas wie gegenseitige Inspiration und Ähnlichkeiten? Das fand ich ebenfalls spannend.

 

Fazit: Ein großartiges Buch über die Geburtsstunde der Kriminalistik, hochinformativ und spannend zugleich.

 

»Eines der Objekte aus Lacassagnes Sammlung war das Skelett eines jungen Mannes, das in einem Schaukasten hing. Der Kopf war nach einer Begegnung mit der Guillotine wieder am Rumpf befestigt worden. … Er erinnerte an ein brutales Verbrechen und daran, dass die Wissenschaft in der Lage gewesen war, es mithilfe winziger Spuren aufzuklären.«