Rezension

Die geheime Macht der Beute.

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 5 Sternen

"Das wirkliche Leben" ist ein grandioses Buch. Heimatroman, Gespenstergeschichte, Thriller, es ist wie ein Bluessong: Man weiß, dass einen nicht viel Heiteres erwarten wird. Die Autorin fesselt den Leser durch einen frivol kalkulierten Thrill an die zutiefst introvertierte Erzählung eines vom Schmerz verschnürten Überlebens. Kein Plot, ein Zustand. Eine Reihenhaussiedlung, wie es viele gibt. Am Waldrand wohnt eine vierköpfige Familie, im schönsten und hellsten Haus. "Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver." Die Kadaver, das sind die ausgestopften Jagdtrophäen, die der Vater der zehnjährigen Ich-Erzählerin von seinen Großwildsafaris mit nach Hause bringt. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt. Und die er mehr liebt als seine Familie, für die er nur Verachtung und Prügel übrig hat. Mutig und voller Liebe versucht das Mädchen, ihren jüngeren Bruder vor der väterlichen Gefühlskälte und Gewalt zu schützen. Tagsüber geht sie mit ihm auf dem Autofriedhof spielen und abends zum Eiswagen, der mit Tschaikowskis 'Blumenwalzer' sein Kommen ankündet. In diesem Sommer erhellt nur das fröhliche Lachen ihres kleinen Bruders das Leben des 10jährigen Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert und nichts mehr ist wie zuvor. Es geschieht eines Tages ein schrecklicher Unfall, der nicht nur das fröhliche Lachen des Bruders verstummen lässt. Nichts ist mehr wie zuvor. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät. Schon nach kaum einer Seite dieses Romans wusste ich, dass ich das Buch lieben würde. Zart und roh, magisch und schmerzhaft, wunderschön und gleichzeitig furchterregend hässlich bildet die Autorin "Das wirkliche Leben" in all seinen Facetten ab. Entfremdung und Verlust in der Familie, die Suche nach Nähe und Liebe - alles Themen, von denen wir oft in Romanen lesen. Man muss einfach hingerissen sein, von diesem großartigen, heranwachsenden Mädchen, das so klug, sensibel, sinnlich ist und einen so unbändigen Lebenstrieb hat.  Ein bewegender Roman, der von Liebe und Verlust erzählt, vom Erwachsenwerden und der Einsamkeit, von Momenten des Glücks und des Staunens. Man möchte immerzu weiter und weiterlesen, und ist traurig, wenn man die letzte Seite umgeblättert hat! Sehr zu Herzen gehend! Wärmstens empfohlen!